Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren

Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren 

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Neben dem Text finden Sie hier auch eine KI-Podcast-Version des Artikels, in der mithilfe von KI – konkret über das Google Notebook LLM – in ein „Gespräch“ zwischen zwei „Personen“ umgewandelt wurde. Bitte beachten Sie, dass diese automatisierte Darstellung gelegentlich ungenau oder fehlerhaft sein kann, aber sie bietet dennoch einen guten Überblick über die wesentlichen Inhalte

Einleitung: Die epistemische Spannung als Motor der Psychoanalyse

Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren.
 Novalis

Mit dieser poetischen und zugleich tiefgründigen Einsicht hat Novalis, ohne es zu ahnen, das epistemologische Credo und die fundamentale Herausforderung der Psychoanalyse formuliert. Die gesamte psychoanalytische Unternehmung, von ihren Anfängen bis in die vielfältigen Verästelungen der Gegenwart, ist dem Versuch gewidmet, die verborgenen Fäden zu verstehen, die das Sichtbare – das Symptom, den Traum, den Versprecher, die gelebte Beziehung – an das Unsichtbare – die unbewusste Dynamik, den verdrängten Konflikt, den unformulierten Wunsch – binden. Doch wie kann man Wissen über etwas generieren, das sich per Definition der direkten Beobachtung entzieht? Wie kann eine Disziplin, die sich dem Unsichtbaren verschrieben hat, ihren Anspruch auf wissenschaftliche Erkenntnis begründen?

Diese Fragen stehen im Zentrum der psychoanalytischen Erkenntnistheorie und haben von Anbeginn an ein Feld grundlegender und andauernder epistemischer Spannung erzeugt. Die intellektuelle Vitalität und die fortwährenden Kontroversen der Psychoanalyse speisen sich aus einer dualen, zutiefst ambivalenten Identität, die bereits in ihrem Gründer, Sigmund Freud, angelegt war. Die Psychoanalyse ist zugleich ein naturwissenschaftliches Projekt, das auf kausale Erklärung abzielt, und eine geisteswissenschaftliche Disziplin, die sich der Interpretation von Bedeutung, dem Verstehen, widmet. Um dieses Spannungsfeld zu verdeutlichen, können wir die Metapher von Bild und Leinwand heranziehen, wie sie von Warsitz und Küchenhoff (2015, S. 65) eingeführt wurde. Zuerst zitieren sie Angehrn: „Wir verstehen das Bild, nicht die Leinwand, auf der es gemalt ist“ (in Warsitz & Küchenhoff 2015, S. 64). Und schreiben weiter: „Die psychoanalytische Gegenstandserfassung […] geht ja gerade davon aus, dass sich aus dem Symptom Sinn erschließen lässt. Der biologische Psychiater befasst sich mit der »Leinwand«, mit dem Substrat der Gedanken, Empfindungen, Emotionen, er nimmt die subjektiven Äußerungen als Hinweise darauf, dass im Substrat etwas nicht stimmt. Er nimmt gleichsam das (subjektive) Bild, um über das Bild die (nicht unmittelbar sichtbare) Leinwand zu erkennen. Könnte er – das ist das Ziel der vielfältigen neuro-biologischen Verfahren – die »Leinwand« direkt betrachten, dann bräuchte er das »Bild« gar nicht mehr. […] Dann wäre der Rückgriff auf das »Bild«, also auf das eigene Erleben des Patienten, über-flüssig geworden.“ (Warsitz & Küchenhoff 2015, S. 65)

Die Position wäre damit diese: Der naturwissenschaftliche Pol der Psychotherapie, dem sich Disziplinen wie die Psychiatrie, die Neurowissenschaften und manche Varianten kognitiver Verhaltenstherapie primär zuordnen, ist der Analyse der Leinwand verpflichtet. Er sucht nach den objektiven, materiellen Ursachen, dem Substrat des Psychischen: neurobiologische Korrelate, biochemische Ungleichgewichte, kausal wirksame dysfunktionale Kognitionen. Die Methoden sind das Messen, das Experiment, die statistische Evidenz, wie sie in randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) angestrebt wird. Würde es gelingen, die Leinwand perfekt zu analysieren, so die implizite Hoffnung, bräuchte man das subjektive Bild darauf nicht mehr. Der geisteswissenschaftliche Pol hingegen, das unbestreitbare Kernterritorium der Psychoanalyse, widmet sich der Deutung des Bildes. Er fragt nach dem subjektiven Sinn, der persönlichen Bedeutung, der Logik der Erzählung, die ein Mensch aus seinem Leben webt. Die Methode ist hier nicht das Messen, sondern die Interpretation, die Hermeneutik, der Dialog. 

Freuds ambivalentes Erbe als Motor der Erkenntnistheorie

Freuds Werk selbst ist Zeugnis dieses Konflikts. Auf der einen Seite steht der Neurologe Freud, der im Geiste des 19. Jahrhunderts eine Naturwissenschaft der Seele schaffen wollte. Sein Entwurf einer Psychologie (1895) ist der kühne, letztlich gescheiterte Versuch, psychische Vorgänge vollständig auf die Ökonomie neuronaler Energien zurückzuführen. Bis zum Ende seines Lebens beharrte er darauf, dass die Psychoanalyse eine „Naturwissenschaft wie jede andere auch“ sei, und fragte rhetorisch: „Was sollte sie denn sonst sein?“ (Freud, 1940b, S. 143). Sein Ziel war es, die verborgenen kausalen Mechanismen hinter den Symptomen zu erklären. Auf der anderen Seite steht der klinische Praktiker Freud, der die „talking cure“ erfand und erkannte, dass Heilung durch das Verstehen von verborgenem Sinn geschieht. Seine Methode ist die Deutung, sein Material die Sprache, und seine Fallgeschichten sind, wie er selbst zugab, „wie Novellen zu lesen“ (Freud & Breuer, 1895d, S. 227), da die Natur seines Gegenstandes – das seelische Drama – eine solche Darstellungsform erzwingt.

Diese Spannung zwischen einem kausal-erklärenden Anspruch und einer sinn-verstehenden Praxis ist, wie in diesem Essay argumentiert wird, kein zu überwindender historischer Fehler oder ein Defizit, sondern der konstitutive Kern und der eigentliche Motor der psychoanalytischen Epistemologie. Es ist, um einen Begriff aus der Softwareentwicklung zu entlehnen, „a feature, not a bug“. Sie zwingt die Psychoanalyse unablässig dazu, ihre eigenen Grundlagen zu reflektieren und ihre Position im Konzert der Wissenschaften neu zu bestimmen. Der Philosoph Jürgen Habermas (1968) hat diese besondere Position gewürdigt, indem er der Psychoanalyse ein eigenständiges, emanzipatorisches Erkenntnisinteresse zuschrieb, das sich weder im technischen Interesse der Naturwissenschaften noch im praktischen Interesse der reinen Hermeneutik erschöpft.

Die Methodologie des Nicht-Wissens als Antwort

Dieses Essay will verschiedene Diskursräume eröffnen, vermag aber nicht die vom Autor vertreten These verbergen, dass die Psychoanalyse als Antwort auf diese Aporie eine einzigartige Epistemologie entwickelt hat: eine Methodologie des Nicht-Wissens. Im Gegensatz zu positivistischen Wissenschaftsmodellen, die auf die Akkumulation gesicherter Fakten und die Eliminierung von Unsicherheit abzielen, argumentiert dieses Essay, dass die psychoanalytische Erkenntnis gerade dort am produktivsten ist, wo sie die Unsicherheit umarmt, die Ambiguität aushält und das Nichtverstehen als methodischen Ausgangspunkt kultiviert. Dieser Ansatz widerspricht der landläufigen Vorstellung von Wissenschaft, scheint aber bei genauerer Betrachtung im Herzen der psychoanalytischen Praxis verankert zu sein. Es ist eine Epistemologie, die, wie Giovanni Vassalli (2005) in seiner brillanten Rekonstruktion der Freud’schen Methode gezeigt hat, auf der Kunst des „Erratens“ und der „konjekturalen Vernunft“ beruht. Freud selbst beschrieb sein Vorgehen als ein Tasten, bei dem ihm Theorien „als ungebetene Gäste ins Haus fallen, während man mit Detailuntersuchungen beschäftigt ist“ (Freud an Ferenczi, 1915). Diese Haltung erhebt, was der Dichter John Keats prägte und der Psychoanalytiker Wilfred Bion (1970) aufgriff, die „negative Fähigkeit“ – die Fähigkeit, in Zweifeln und Mysterien zu verweilen, ohne nach irritierender Gewissheit zu greifen – zur zentralen Kompetenz des Analytikers. Wie Timo Storck (2017) es formuliert, geht es darum, den „Versteh-Blues“ – die Frustration über die Grenzen des Verstehens – nicht als Scheitern, sondern als produktiven Zustand zu begreifen.

Die Struktur des Essay: Vier epistemische Achsen als Kompass

Um diese komplexe Landschaft der psychoanalytischen Erkenntnistheorie systematisch zu kartieren, werden wir unsere Argumentation entlang von vier fundamentalen epistemischen Achsen entfalten. Diese Achsen spannen einen multidimensionalen Raum auf, in dem sich die verschiedenen psychoanalytischen Paradigmen und Arbeitsmodelle verorten lassen. Sie dienen als unser konzeptioneller Kompass auf der Reise durch die oft widersprüchlichen Debatten des Feldes. Jede klinische Entscheidung, so unsere These, ist eine Positionierung in diesem Raum.

1.Die Ontologische Achse (Was ist der Gegenstand der Erkenntnis?): Diese Achse bewegt sich zwischen dem Pol eines verborgenen, statischen Inhalts (das archäologische Modell) und dem eines dynamischen, emergenten Prozesses (das relationale Modell).

2. Die Methodische Achse (Wie wird Wissen generiert?): Sie spannt sich auf zwischen dem Primat der Theorie als deduktiv angewendeter Landkarte und dem Primat der Praxis als konjekturaler Kunst (techné).

3. Die Subjektive Achse (Wer ist das Instrument der Erkenntnis?): Hier stehen sich das Ideal der objektiven Distanz (der Analytiker als Spiegel) und die radikale Involvierung durch Resonanz (die Gegenübertragung als Instrument) gegenüber.

4. Die Teleologische Achse (Wozu erkennen wir?): Die Ziele reichen von der Restauration von Gesundheit und Funktionalität bis zur Emanzipation des Subjekts hin zu Freiheit und der Akzeptanz seiner unaufhebbaren Widersprüche.

Indem wir die psychoanalytische Erkenntnistheorie durch das Prisma dieser vier Achsen betrachten, hoffen wir, nicht nur die historischen Debatten zu ordnen, sondern auch die zeitgenössische Relevanz der Psychoanalyse zu unterstreichen. Ihre Stärke liegt, so wird sich zeigen, nicht in der Bereitstellung endgültiger Antworten, sondern in ihrer einzigartigen Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen und den Raum für ein Wissen offen zu halten, das sich der endgültigen Fixierung entzieht – ein Wissen, das dem unaufhörlichen Spiel zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren gerecht wird.

1               Der fiktive Fall Alfred Koops der Symfora Tapes

Die psychoanalytische Erkenntnistheorie ist keine abstrakte, von der klinischen Realität losgelöste Disziplin. Sie entsteht und bewährt sich in der konkreten Begegnung mit dem menschlichen Leiden. Ihr Gegenstand ist nicht das Lehrbuch, sondern die gelebte, oft zutiefst widersprüchliche Erfahrung eines singulären Subjekts. Um die komplexen Wege psychoanalytischer Wissensgenerierung zu verstehen, müssen wir daher am Anfang beginnen: bei der Begegnung mit einem Fall, der uns herausfordert, der unsere gewohnten Verständniskategorien in Frage stellt und uns zwingt, unsere eigenen epistemologischen Werkzeuge zu schärfen. Der Fall von Herrn Alfred Koops, wie er uns in den Lehrvideos der Symfora Tapes mit Otto Kernberg begegnet, ist ein solcher Fall. Er ist ein Paradigma für das zentrale Rätsel, dem sich die Psychoanalyse stellt: das Rätsel des fundamentalen Widerspruchs zwischen dem, was ein Mensch von sich zu wissen glaubt – dem Sichtbaren seiner Selbsterzählung – und dem, was sich in seinen Handlungen und Beziehungen als eine unsichtbare, aber wirkmächtige Kraft manifestiert.

1.1             Fallvorstellung Alfred Koops: Das Paradox des „liebenden“ Täters

Herr Koops, ein vierzigjähriger Mann, der zurückgezogen als Nachtportier in einem Hotel arbeitet, sucht auf Anraten seiner Schwester eine Therapie auf. Er befindet sich in einer akuten Lebenskrise. Vor zwei Monaten hat ihn seine Lebensgefährtin Saskia, 35 Jahre alt, nach vierjähriger Beziehung plötzlich verlassen. Dieses Ereignis hat ihn in einen Zustand tiefer Verzweiflung gestürzt. Er berichtet von einer schweren depressiven Symptomatik, die von anhaltender Niedergeschlagenheit, einem tiefen Gefühl der Sinnlosigkeit und wiederkehrenden Suizidgedanken geprägt ist. Die Trennung hat nicht nur einen Verlust bedeutet, sondern sein gesamtes Selbst- und Weltverständnis erschüttert. Er fühlt sich betrogen, verraten und fundamental missverstanden, insbesondere von den Paartherapeuten, die das Paar kurz vor der Trennung konsultiert hatte.

Die Trennung von Saskia ist kein singuläres Ereignis, sondern die tragische Wiederholung eines Musters, das Herrn Koops‘ Leben zu bestimmen scheint. Es ist die dritte langjährige Beziehung, die auf identische Weise endet: abrupt, unerwartet und für ihn ohne nachvollziehbare Erklärung. Er beschreibt ein sich wiederholendes Drama von intensiver, fast symbiotischer Nähe, die unweigerlich in Konflikte mündet und in der plötzlichen, fluchtartigen Trennung durch die Partnerin kulminiert.

Dieses Muster hinterlässt ihn in einem Zustand existenzieller Not. Er leidet extrem unter dem Alleinsein, das er kaum ertragen kann. Diese panische Angst vor dem Verlassenwerden treibt ihn dazu, sich in Beziehungen förmlich festzuklammern, was, wie sich zeigen wird, paradoxerweise genau die Reaktionen hervorruft, die er am meisten fürchtet. Gleichzeitig ist seine Beziehungsfähigkeit von einem tiefen, generalisierten Misstrauen durchzogen. Er fühlt sich von anderen schnell bedroht, hintergangen und verfolgt. In der aktuellen Situation manifestiert sich dieses Misstrauen in seiner Überzeugung, die Paartherapeuten hätten eine „Verschwörung“ gegen ihn angezettelt. Er überträgt diese Haltung auf die neue Therapiesituation und macht deutlich, wie schwer es ihm fällt, Vertrauen zu fassen.

Das auffälligste Merkmal in der Selbstdarstellung von Herrn Koops ist die massive Diskrepanz zwischen seinem bewussten Selbstbild und seinem tatsächlichen Verhalten. Er beschreibt sich beharrlich als eine „sehr liebevolle“ und aufopferungsvolle Person. Die Angst, die seine Partnerinnen vor ihm empfinden, rationalisiert er mit der bemerkenswerten Formulierung, sie hätten „vielleicht Angst davor, dass ich sie so sehr liebe.“ Diese Idealisierung seiner selbst und seiner Liebe steht in krassem Gegensatz zu den Fakten seiner Beziehungsgeschichte.

Die Konfrontation mit diesen Fakten offenbart die Wirksamkeit primitiver Abwehrmechanismen. Er hat Saskia im Streit den Finger gebrochen, ein Akt schwerer körperlicher Gewalt, den er als „Unfall“ oder „kleines Versehen“ bagatellisiert. Er gibt zu, sie mehrfach geohrfeigt zu haben, verharmlost dies aber als unbedeutend. Anstatt Schuld oder Verantwortung zu übernehmen, externalisiert er die Ursache des Scheiterns vollständig. Diese massive Spaltung in ein „ganz gutes“ Selbst und „böse“ Andere (die Verräterinnen, die verschwörerischen Therapeuten) schützt ihn vor der unerträglichen Erkenntnis seiner eigenen Aggressivität und seines destruktiven Anteils am Beziehungsgeschehen. Die Projektion eigener feindseliger Impulse auf andere erlaubt es ihm, sich selbst als Opfer zu erleben und die Realität in einer paranoiden Weise zu verzerren.

Der biografische Hintergrund liefert den Kontext für das Verständnis dieser tiefgreifenden Störung. Herr Koops wuchs in einer Atmosphäre emotionaler Kälte und Unberechenbarkeit auf. Der Vater war weitgehend abwesend. Die Mutter, die an einer schweren psychischen Erkrankung litt, schwankte zwischen übergriffiger, kontrollierender Nähe und plötzlicher, unerklärlicher Distanz. Die prägendste Erfahrung seiner Kindheit war, von der Mutter für ihre Krankheit und ihre wiederholten Klinikaufenthalte verantwortlich gemacht worden zu sein.

Diese frühen Erfahrungen etablierten eine zutiefst unsichere, desorganisierte Bindung und legten den Grundstein für den zentralen unbewussten Konflikt, der sein Leben beherrscht: der unlösbare Widerspruch zwischen überwältigenden Wünschen nach symbiotischer Verschmelzung (zur Abwehr der panischen Verlassenheitsangst) und heftigen Wut- und Zerstörungsimpulsen, die bei jeder erlebten Kränkung oder drohendem Kontrollverlust durchbrechen. Seine „Liebe“ ist ein verzweifelter Versuch, das Objekt an sich zu binden und es zu kontrollieren, um nicht verlassen zu werden. Saskias Vorwurf, er „fülle ihre Gedanken aus“ und gebe ihr „keinen Platz“, ist eine präzise Beschreibung dieses übergriffigen, symbiotischen Wunsches. Jeder Versuch der Partnerin, Autonomie zu erlangen, wird von ihm als existenzielle Bedrohung erlebt und löst jene unkontrollierbare Wut aus, die letztlich zur Zerstörung der Beziehung führt.

1.2             Schlüsselszene: „Wer sind Sie, Herr Koops?“

Wir wenden uns nun der Analyse der Schlüsselszene zu. Sie dient uns als Mikrokosmos, in dem sich das gesamte erkenntnistheoretische Drama der Psychoanalyse verdichtet.

(Transkript der Szene 53:20 – 58:30)

Kernberg: Nun, ich möchte Sie etwas über sich als Person fragen. Können Sie mir beschreiben, was Sie von allen anderen unterscheidet?

(Koops schnauft, schweigt für etwa 40-50 Sekunden. Die Stille ist nicht leer, sondern geladen mit Spannung, Ratlosigkeit und Widerstand.)

Koops: Ich verstehe die Frage vielleicht nicht so.

(Kernberg wiederholt und präzisiert die Frage. Er bleibt ruhig, aber unnachgiebig. Er lässt die Frage im Raum stehen und zwingt Koops, sich mit der Leere zu konfrontieren, die sie offenbart. Nach einer weiteren Pause von ca. 20 Sekunden beginnt Koops zu sprechen.)

Koops: Ich denke… das Erste, woran ich denke, ist: Wenn ich in einer Beziehung bin, kann ich eine sehr liebevolle Person sein. Ich bin bereit, viel zu geben für die Person, die ich liebe. (Er hält kurz inne, als suche er nach Bestätigung.) Vielleicht… falls mich das einzigartig macht.

(Die Antwort ist eine hohle Phrase, eine klischeehafte Fassade, die nichts über seine Einzigartigkeit aussagt. Kernberg lässt dies nicht gelten.)

Kernberg: Gibt mir das eine gute Sicht auf Sie als Person? Was Sie von anderen unterscheidet? Was ist das Besondere an Ihnen?

Koops: Ich habe versucht, über Dinge nachzudenken. Aber vielleicht verstehe ich das nicht.

(Koops weicht erneut aus. Er kapituliert vor der Frage. Kernberg wechselt nun die Strategie. Er verlässt die offene Frage und geht zur direkten Konfrontation mit dem zentralen Widerspruch über.)

Kernberg: Nun, Sie beschreiben sich selbst als eine sehr liebevolle Person.

Koops: Ja.

Kernberg: Sehr hingebungsvoll, sehr liebevoll. Gleichzeitig haben Sie mir erzählt, dass drei Frauen Sie verlassen haben, weil sie Angst vor Ihnen hatten. Ist das eine faire Aussage?

Koops: Sie haben Angst vor mir, vielleicht… Angst davor, dass ich sie so sehr liebe.

(Koops versucht verzweifelt, den Widerspruch mit seiner grandiosen Rationalisierung aufzulösen. Kernberg lässt diese letzte Verteidigungslinie nicht zu.)

Kernberg: Aber Angst vor Ihnen. Und Sie haben erwähnt, dass Sie, wenn Sie wütend werden, körperlich gewalttätig werden können. Sie haben Saskias Finger gebrochen. Wie bringen Sie das also zusammen: dass Sie Menschen Angst machen, wütend werden und sie schlagen? Und sich gleichzeitig ausschließlich als eine sehr liebevolle Person beschreiben?

(Diese präzise, unerbittliche Konfrontation lässt die Fassade endgültig zusammenbrechen. Nach einer weiteren Pause kommt die entscheidende Antwort von Koops, ein Moment schmerzhafter, aber potenziell transformativer Einsicht.)

Koops: Vielleicht… stimmt das. Ich kann auch sehr frustriert sein, wenn die Leute es nicht akzeptieren. Meine Liebe nicht akzeptieren. Oder Angst haben vor der Art, wie ich… (hält inne) Vielleicht bin ich gar keine so liebevolle Person. Offenbar bin ich es nicht, denn sonst wäre ich jetzt nicht allein.

1.3             Eröffnung der Diskursräume: Vier Perspektiven zur Analyse der Szene

Diese Szene ist ein außergewöhnlich reiches Material für unsere erkenntnistheoretische Untersuchung. Sie konfrontiert uns mit allen zentralen Fragen, die die Psychoanalyse seit ihren Anfängen beschäftigen. Anstatt eine definitive Deutung zu geben, wollen wir die Szene nutzen, um unseren eigenen Denkraum zu öffnen. Wir werden sie nun im weiteren Verlauf des Essays aus vier verschiedenen Perspektiven betrachten, die jeweils einer unserer epistemischen Achsen entsprechen.

Epistemische AchseLeitfragen zur Diskussion
1. Die Perspektive des „Was“(Der Gegenstand der Erkenntnis)Worauf sollten wir unseren Fokus legen: Auf Koops’ Aussage („Ich bin liebevoll“) oder auf sein langes, zögerliches Schweigen? Was ist hier das eigentliche „Material“ – ist es eine verborgene Wahrheit in Herrn Koops, die wir finden müssen, oder entsteht das Entscheidende erst zwischen ihm und dem Therapeuten?
2. Die Perspektive des „Wie“(Die Methode der Erkenntnis)Wie kommt Kernberg zu seiner entscheidenden Konfrontation? Folgt er einem festen theoretischen Plan? Oder reagiert er spontan auf etwas, das ihn in der Situation überrascht oder irritiert? Ist sein Vorgehen hier eher die Arbeit eines Wissenschaftlers oder die eines Künstlers?
3. Die Perspektive des „Wer“(Das Instrument der Erkenntnis)Welche Rolle spielt die Person des Therapeuten in diesem Moment? Hätte jeder andere Beobachter dasselbe bewirken können? Sind Kernbergs eigene Gefühle (z.B. Ungeduld, Irritation) ein Hindernis für die Objektivität oder sind sie das eigentliche Werkzeug, um Koops‘ inneren Zustand zu erspüren?
4. Die Perspektive des „Wozu“(Das Ziel der Erkenntnis)-Was ist das eigentliche Ziel dieser schmerzhaften Konfrontation? Soll Herr Koops „repariert“ werden, damit er wieder „funktioniert“? Oder geht es darum, ihm zu helfen, die Freiheit zu erlangen, sich selbst mit seinen Widersprüchen zu sehen und diese vielleicht sogar auszuhalten?

2               Vier (subjektiv ausgewählte) epistemologische Achsen

Nachdem wir uns durch die Begegnung mit dem Fall Alfred Koops und die Analyse der Schlüsselszene der fundamentalen Unsicherheit und Komplexität des psychoanalytischen Erkenntnisprozesses angenähert haben, wenden wir uns nun den theoretischen Werkzeugen zu, die die Psychoanalyse im Laufe ihrer Geschichte entwickelt hat, um dieses schwierige Terrain zu kartieren. Wir haben gesehen, dass die einfache Frage „Wer sind Sie, Herr Koops?“ keine einfache Antwort hervorbringt, sondern ein ganzes Universum von Widersprüchen, Ausweichmanövern und schmerzhaften Einsichten eröffnet. Um dieses Phänomen zu verstehen, reicht eine naive Alltagspsychologie nicht aus. Es bedarf eines differenzierten konzeptionellen Rahmens.

Wir werden diesen Rahmen entlang von vier epistemischen Achsen aufspannen. Jede dieser Achsen repräsentiert ein fundamentales Spannungsfeld, einen Diskursraum, in dem sich die verschiedenen psychoanalytischen Schulen und Denktraditionen positionieren. Diese Achsen sind nicht als sich gegenseitig ausschließende Kategorien zu verstehen, sondern als Dimensionen eines mehrdimensionalen Raumes, in dem sich jede klinische Intervention verorten lässt. Indem wir die Positionen entlang dieser Achsen analysieren, können wir nicht nur die historischen Debatten der Psychoanalyse besser verstehen, sondern auch unsere eigene klinische Haltung schärfen und die Konsequenzen unserer impliziten epistemologischen Annahmen reflektieren.

2.1             Die Ontologische Achse – Was ist der Gegenstand der Erkenntnis?

Die erste und grundlegendste Frage, die wir uns als Analytiker stellen müssen, ist ontologischer Natur: Was ist eigentlich der Gegenstand, mit dem wir arbeiten? Was ist „das Unbewusste“? Die Antwort, die wir uns – oft unbewusst – geben, formt unsere gesamte klinische Haltung. Sie bestimmt, worauf wir in der Stunde achten, welche Art von Material wir als relevant erachten und welche Art von Wahrheit wir zu finden hoffen. Die Geschichte der Psychoanalyse ist auch die Geschichte eines Ringens um die Definition dieses flüchtigen, paradoxen Gegenstandes. Wir können diese Entwicklung entlang einer Achse nachzeichnen, die von einer Ontologie des verborgenen, statischen Inhalts zu einer Ontologie des dynamischen, emergenten Prozesses und schließlich zu einer Ontologie der Negativität führt.

2.1.1          Das Unbewusste als verschüttete Stadt: Freuds archäologisches Paradigma

Die ursprünglichste, eingängigste und wohl bis heute kulturell wirkmächtigste Konzeption des psychoanalytischen Gegenstandes ist die des verborgenen Inhalts. In diesem Paradigma, das tief in Freuds naturwissenschaftlichem Erbe verwurzelt ist, wird das Unbewusste als ein real existierender, wenn auch dem Bewusstsein unzugänglicher, psychischer Ort verstanden – ein Behälter oder ein Archiv, in dem spezifische, bedeutungsvolle und historisch wahre Inhalte deponiert sind. Der Gegenstand der Analyse ist hier etwas Statisches, Reales und im Prinzip Auffindbares. Er ist eine Entität, die darauf wartet, entdeckt zu werden.

Freud selbst hat dieses Modell an entscheidenden Stellen seines Werkes mit der suggestiven Archäologie-Metapher etabliert. In seinen Studien über Hysterie vergleicht er die Organisation des pathogenen Materials mit einem vielschichtigen Archiv, das in konzentrischen Schichten um einen pathogenen Kern herum angeordnet ist (Freud & Breuer, 1895d, S. 295). Der Analytiker, so das Bild, arbeitet sich wie ein Archäologe von den äußeren Schichten zu den inneren vor, um den Kern des Problems freizulegen. In seinem späten Aufsatz „Konstruktionen in der Analyse“ (1937d) wird dieser Vergleich zur expliziten methodologischen Grundlage erhoben: „Seine Arbeit der Konstruktion oder, wenn man lieber will, der Rekonstruktion, zeigt eine weitgehende Ähnlichkeit mit der des Archäologen, der eine zerstörte und verschüttete Wohnstätte oder ein Bauwerk der Vorzeit ausgräbt. […] Aus den erhaltenen Resten schließt er auf das Ganze.“ (S. 45).

Dieses Modell impliziert eine klare ontologische Annahme: Der Gegenstand der Analyse ist eine historische Wahrheit. Es gibt eine reale, faktische Vergangenheit – eine spezifische traumatische Szene, ein verdrängter infantiler Wunsch –, die als die Ursache des gegenwärtigen neurotischen Leidens fungiert. Diese Vergangenheit ist nicht verloren, sie ist lediglich verdrängt und wartet darauf, wiederentdeckt zu werden. Das epistemologische Ziel ist folglich die Rekonstruktion dieser historischen Wahrheit durch Aufdecken des Verborgenen. Die Methode ist die des kausalen Erklärens: Ein vergangenes Trauma verursacht ein gegenwärtiges Symptom. Das Wahrheitskonzept, das diesem Modell zugrunde liegt, ist das der Korrespondenz: Eine Deutung oder Konstruktion ist dann „wahr“, wenn sie mit der realen, wenn auch vergessenen, historischen Vergangenheit des Patienten übereinstimmt.

Der Diskursraum dieses Modells ist der des Positivismus des 19. Jahrhunderts. Er steht in der Tradition der Naturwissenschaften und zielt darauf ab, die Psychoanalyse als eine empirische, faktenbasierte Disziplin zu etablieren. Genau an diesem Anspruch – die Psychoanalyse als eine Wissenschaft zu betrachten, die kausale Hypothesen über die Realität aufstellt und überprüft – setzt die scharfe Kritik des Wissenschaftsphilosophen Adolf Grünbaum (1984) an. Grünbaums fundamentale Herausforderung zielt auf die Achillesferse des archäologischen Modells: die Frage der wissenschaftlichen Verifizierbarkeit im klinischen Setting. Er argumentiert, dass die psychoanalytische Situation als „Labor“ epistemologisch unbrauchbar ist, da sie unauflöslich durch Suggestion „kontaminiert“ sei. Die Erwartungen des Analytikers, seine theoretischen Vorannahmen und seine Deutungen beeinflussen unvermeidlich das Material, das der Patient produziert. Die Daten, die der Analytiker „ausgräbt“, sind nach Grünbaum also keine unabhängigen Fakten, sondern Artefakte der therapeutischen Interaktion selbst (Warsitz & Küchenhoff, 2015, S. 52). Aus dieser Prämisse leitet Grünbaum seine zentrale Forderung ab: Wenn die Psychoanalyse einen wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch erheben will, kann sie ihre Hypothesen nicht „auf der Couch“ beweisen. Sie muss sich, wie jede andere empirische Wissenschaft, einer extraklinischen Überprüfung durch kontrollierte, experimentelle und epidemiologische Studien unterziehen. Um die angebliche Unzulänglichkeit der klinischen Methode zu demonstrieren, rekonstruiert und dekonstruiert Grünbaum das, was er als Freuds Hauptargument für die Validität seiner Deutungen ansieht: das sogenannte „Tally-Argument“ (Übereinstimmungsargument). Dieses besagt, dass nur eine korrekte (wahre) Deutung zu einer dauerhaften Heilung führen kann, und dass der therapeutische Erfolg somit die Wahrheit der Deutung beweise. Grünbaum attackiert dies als logischen Fehlschluss, da der Erfolg ebenso gut auf unspezifischen Faktoren wie Suggestion beruhen könne.

Die klinische Implikation des archäologischen Modells ist die Haltung des Analytikers als Detektiv der Vergangenheit. Seine Aufgabe ist das objektive Aufdecken der pathogenen Ursache. In der Arbeit mit Herrn Koops würde ein Analytiker, der diesem Modell folgt, den Fokus primär auf dessen Biografie legen. Er würde versuchen, die eine zentrale traumatische Szene in der Beziehung zur psychisch kranken Mutter zu identifizieren, die als kausale Wurzel für seine heutige Beziehungsunfähigkeit und Aggression angesehen wird. Die zentrale Intervention wäre die genetische Deutung, die eine direkte Kausalkette von der Kindheitserfahrung zu Koops‘ aktuellem Verhalten herstellt: „Ihre heutige Wut auf Frauen ist eine direkte Folge der damaligen Erfahrung, von Ihrer Mutter für ihre Krankheit verantwortlich gemacht worden zu sein und sich ohnmächtig gefühlt zu haben.“ Das Ziel wäre es, durch die Bewusstmachung dieser historischen Wahrheit den „eingeklemmten Affekt“ zu befreien und das Symptom aufzulösen.

Es ist jedoch entscheidend zu betonen, dass dieses archäologische Modell nur eine Seite von Freuds Denken repräsentiert. Ihn darauf zu reduzieren, würde die inhärente Spannung und die revolutionäre Modernität seines Werks verkennen. An zahlreichen anderen Stellen unterläuft Freud sein eigenes positivistisches Programm. Bereits in den Studien über Hysterie (1895d) gesteht er die Grenzen der Rekonstruktion ein, wenn er die Erzählungen seiner Patientinnen mit einem „nicht schiffbaren Strom“ voller „Lücken und Rätsel“ vergleicht (S. 173-174). Seine Aufgabe der „Verführungstheorie“ um 1897 markiert dann den entscheidenden Wendepunkt: Er erkannte, dass die pathogenen Szenen auch Fantasien sein können, die für das Subjekt jedoch die gleiche „psychische Realität“ besitzen. Hiermit verschiebt sich der Fokus von der rein historischen zur narrativen Wahrheit. Und schließlich betont Freud in seinen technischen Schriften die Bedeutung der Übertragung und des Widerstands als Phänomene, die im Hier und Jetzt der analytischen Situation auftreten und in denen die Vergangenheit wiederholt und agiert wird (Freud, 1914g). Freud selbst war somit der erste Kritiker seines eigenen Modells und bereitete den Boden für die ontologischen Verschiebungen, die die Psychoanalyse im 20. und 21. Jahrhundert prägen sollten.

2.1.2          Die hermeneutische Wende: Der Gegenstand als zu konstruierende Geschichte

Insbesondere die hermeneutischen Wende in der Psychoanalyse zeigte die Unzulänglichkeiten des archäologischen Modells. Der Fokus verschob sich von der Suche nach der historischen Tatsache auf die Analyse der Erzählung. Der Gegenstand der Erkenntnis ist in diesem Paradigma nicht mehr eine verborgene Vergangenheit, sondern die Art und Weise, wie ein Subjekt sein Leben zu einer Geschichte formt und welche Bedeutung es seinen Erfahrungen gibt.

Die ontologische Annahme dieses Modells lautet: Die menschliche Erfahrung ist fundamental narrativ strukturiert. Wir leben nicht in einer Welt von rohen Daten, sondern in einer Welt von Geschichten, die wir uns selbst und anderen erzählen, um unsere Erfahrungen zu ordnen und ihnen Sinn zu verleihen. Psychopathologie ist aus dieser Perspektive eine Form der narrativen Desintegration. Das Trauma zerreißt die Kontinuität der Erzählung. Die Verdrängung schafft Lücken und „blinde Flecken“. Das neurotische Symptom ist ein unverständliches Fragment, ein „erratischer Block“, der sich nicht in die kohärente Erzählung des Selbst einfügen lässt. Der Patient leidet, weil seine Geschichte, wie der Philosoph Paul Ricœur es ausdrücken würde, ein „verderbter Text“ voller Widersprüche und unerklärlicher Elemente ist.

Der Diskursraum ist hier der der Geisteswissenschaften, wie sie von Wilhelm Dilthey konzipiert wurden. Es geht nicht mehr um kausales Erklären, sondern um das Verstehen von Sinnzusammenhängen. Das epistemologische Ziel ist nicht die Rekonstruktion, sondern die Konstruktion einer neuen, kohärenteren und sinnerfüllten Lebensgeschichte. Dies führte Donald Spence (1982) zu seiner berühmten Unterscheidung zwischen historischer Wahrheit und narrativer Wahrheit. Die historische Wahrheit, also das, was „wirklich“ passiert ist, sei in der Analyse prinzipiell unerreichbar und therapeutisch auch nicht entscheidend. Entscheidend sei die narrative Wahrheit: die innere Stimmigkeit, die Überzeugungskraft und die Kohärenz der Geschichte, die in der Analyse co-konstruiert wird. Eine Deutung ist in diesem Sinne „wahr“, wenn sie dem Patienten hilft, seine Erfahrungen auf eine Weise zu organisieren, die für ihn sinnhaft und befreiend ist. Marcia Cavell (1993) hat diese Position aus der Perspektive der analytischen Philosophie weiterentwickelt und argumentiert, dass eine therapeutisch wirksame Geschichte zwar nicht beliebig sein kann, ihre Kraft aber primär aus der konstruktiven Organisation von Bedeutung schöpft.

Die klinische Implikation dieses Paradigmas ist die Haltung des Analytikers als hermeneutischer Co-Autor. Seine Aufgabe ist es, dem Patienten zu helfen, die „grammatischen Regeln“ seiner unbewussten Geschichte zu verstehen und sie neu zu schreiben. Bei Herrn Koops würde der Fokus auf der offensichtlichen Inkohärenz seiner Selbsterzählung liegen. Wie passen das Bild des „übermäßig liebenden“ Menschen und die Realität des gewalttätigen Partners zusammen? Die analytische Arbeit bestünde darin, diese Fragmente nicht als Widerspruch zu einer verborgenen Wahrheit zu sehen, sondern als Teile einer zerrissenen Geschichte, die neu verbunden werden müssen. Die zentrale Intervention ist, wie Wolfgang Mertens (2021) es formuliert, die Entscheidung des Therapeuten, aktiv „neue Bedeutungen herzustellen“, anstatt nur „verschüttete Bedeutungen auszugraben“. Der Analytiker bietet Deutungen an, die narrative Brücken bauen, um dem Patienten zu ermöglichen, was Ricœur (2006) als das eigentliche Ziel bezeichnet: zu lernen, „sich anders zu erzählen“.

2.1.3          Die relationale Revolution: Der Gegenstand als intersubjektiver Prozess

Die relationale und intersubjektive Wende, die die Psychoanalyse tiefgreifend verändert hat, hat den Gegenstandsbegriff weiter radikalisiert. In diesem Paradigma ist der Gegenstand der Analyse nicht mehr etwas, das der Patient in die Sitzung „mitbringt“ – sei es als verdrängter Inhalt oder als fragmentiertes Narrativ. Der Gegenstand ist vielmehr ein dynamischer Prozess, der erst im Hier und Jetzt der analytischen Begegnung entsteht und sich unablässig wandelt.

Die ontologische Annahme dieses Modells ist revolutionär: Es bricht mit der Vorstellung eines isolierten, intrapsychischen Geistes und geht von einer konsequenten Zwei-Personen-Psychologie aus. Die Psyche, so die Grundthese von Autoren wie Stephen Mitchell (1997), wird fundamental dialogisch und intersubjektiv konstituiert. Der eigentliche Ort des psychischen Lebens ist nicht im Inneren eines Individuums, sondern im Raum zwischen den Subjekten. Daraus folgt, dass der Gegenstand der Untersuchung nicht mehr primär die Psyche des Patienten ist, sondern das intersubjektive Feld, das von Analytiker und Patient gemeinsam geschaffen wird.

Der Diskursraum dieses Modells ist geprägt von Konzepten, die diese Prozesshaftigkeit und Co-Konstruktion zu fassen versuchen. Beispiele wären:

·       Das Enactment, wie von Edgar Levenson (2010) und Theodore Jacobs (1986) beschrieben, wird zum zentralen Phänomen. Das unbewusste Drama wird nicht erinnert, sondern in der Beziehung agiert.

·       Die argentinischen Psychoanalytiker Willy und Madeleine Baranger (2008) konzeptualisierten das „analytische Feld“ als den eigentlichen Gegenstand, in dem die „unbewusste Paarphantasie“ entsteht.

·       Thomas Ogden (1994) radikalisierte diese Idee mit dem Konzept des „analytischen Dritten“ – einer dritten, emergenten Subjektivität, die vom analytischen Paar gemeinsam geschaffen wird, aber über beide hinausgeht.

·       Eine eingängige Formulierung dieser Prozesshaftigkeit findet sich bei Storck & Doğan (2025), die das Unbewusste nicht als Ding, sondern als sich ständig wandelndes „Verhältnis“ beschreiben, das sich in der Begegnung „immer schon umgezogen“ hat.

·       In eine ähnliche Richtung weist Arnold Modells (2010) Konzept des Unbewussten als aktives „Knowledge Processing Centre“, das unaufhörlich gegenwärtige Erfahrungen mit alten Mustern abgleicht und metaphorisch verarbeitet.

Die epistemologische Konsequenz ist tiefgreifend: Wissen kann nicht mehr „entdeckt“, sondern nur noch miterlebt und co-konstruiert werden. Die Wahrheit liegt nicht im „Was“ (dem Inhalt), sondern im „Wie“ des Prozesses.

Die klinische Implikation ist die Haltung des Analytikers als involvierter Teilnehmer und Resonanzkörper. Bei Herrn Koops wäre das zentrale Datum nicht seine Vergangenheit oder seine Erzählung, sondern sein Verhalten gegenüber dem Therapeuten in der Stunde. Sein paranoides Misstrauen und seine Anklage, die Therapeuten seien eine „Verschwörung“, werden nicht als Bericht über die Vergangenheit, sondern als lebendiges Enactment seines Grundkonflikts im Therapieraum verstanden. Die zentrale Intervention ist die Analyse der Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamik. Die entscheidende Frage ist nicht mehr „Was war damals mit Ihrer Mutter?“, sondern „Was geschieht hier gerade zwischen uns, das mich dazu bringt, mich verteidigen zu wollen?“.

2.1.4          Jenseits der Präsenz: Der Gegenstand als fundamentale Negativität

Die radikalste Position auf der ontologischen Achse, die tief in der kontinentalen Philosophie verwurzelt ist, versteht den Gegenstand der Psychoanalyse nicht als eine Präsenz – sei es als Inhalt, Prozess oder Feld –, sondern fundamental als eine Negativität. Das Unbewusste zeigt sich gerade dort, wo etwas fehlt, wo etwas scheitert oder verneint wird. 

Der Diskursraum dieses Modells ist der des Poststrukturalismus und der Kritischen Theorie, inspiriert von Denkern wie Jacques Lacan, Theodor W. Adorno und André Green. Theodor W. Adorno (1966) hat in seiner Negativen Dialektik argumentiert, dass die Wahrheit nicht in der harmonisierenden Identität, sondern im Widerspruch, im Nicht-Identischen liegt – in all dem, was sich dem Zugriff des Begriffs entzieht. Übertragen auf die Psychoanalyse, ist das Unbewusste der Ort dieses Nicht-Identischen: das Leiden, der Schmerz, die Wunde. Für Jacques Lacan (1966) ist das menschliche Subjekt durch einen konstitutiven Mangel (manque) gekennzeichnet. Das Begehren ist kein Streben nach einem positiven Objekt der Befriedigung, sondern der endlose Versuch, diese ursprüngliche Lücke zu füllen – ein Versuch, der notwendigerweise scheitern muss. Der wahre Gegenstand der Analyse ist nicht ein zu befriedigender Wunsch, sondern dieser fundamentale Mangel selbst, der sich im Objekt klein a (objet petit a) als unerreichbare Ursache des Begehrens manifestiert. André Green (1993) hat diese Perspektive in seinem Konzept der „Arbeit des Negativen“ klinisch fruchtbar gemacht und den Fokus auf die Kräfte der Auflösung (Deliaison), die Erfahrung der Leere und die Wirksamkeit des Todestriebs gelegt.

Diese ontologische Annahme führt zu einer Negativen Hermeneutik (Warsitz & Küchenhoff, 2015). Die Erkenntnis zielt nicht auf eine Präsenz, sondern auf eine Abwesenheit. Die Methode ist die Interpretation der Lücke, des Schweigens und der Verneinung. Freuds kurzer Aufsatz Die Verneinung (1925a) wird hier zum Schlüsseltext. Die Aussage „Das ist nicht meine Mutter im Traum“ ist die paradoxe Form, in der das Unbewusste im Bewusstsein präsent wird. Die Negation ist kein logischer Operator, sondern die „Arbeit des Negativen“, die Erkenntnis ermöglicht.

Die klinische Implikation ist die Haltung des Analytikers als „Geburtshelfer der Negativität“. Er praktiziert aktiv eine Form des Nichtverstehens (Storck, 2017) und kultiviert die „negative Fähigkeit“ (Bion, 1970), der Versuchung zu widerstehen, die Leere mit positiven Deutungen und tröstenden Sinnangeboten zu füllen. Bei Herrn Koops wäre der Kern seines Problems aus dieser Perspektive seine Unfähigkeit zur Ambivalenz, die Unfähigkeit, Liebe und Hass zu integrieren. Die Leerstelle ist dort, wo diese Integration sein sollte. Sein langes, quälendes Schweigen in der Videoszene auf die Frage „Wer sind Sie?“ ist nicht die Abwehr einer Antwort, sondern die Darstellung dieser inneren Leere. Seine Unfähigkeit, eine kohärente Identität zu formulieren, ist nicht ein Defekt, der behoben werden muss, sondern der Gegenstand selbst. Die Intervention würde sich auf die Grenzen der Symbolisierung konzentrieren. Anstatt ihm zu sagen, was sein Problem ist, könnte ein Analytiker hier paradox intervenieren: „Es scheint, als gäbe es für diesen Widerspruch in Ihnen noch keine Worte.“ Eine solche Deutung zielt nicht auf einen verborgenen Inhalt, sondern interpretiert die Abwesenheit, das Scheitern der Sprache selbst.

2.1.5          Zusammenfassung des Kapitels

Unsere Reise entlang der ontologischen Achse hat uns von der Vorstellung des Unbewussten als einem statischen, auffindbaren Gegenstand zu einer immer radikaleren prozessualen und negativen Sichtweise geführt. Jedes Modell hat seine eigene Logik und führt zu einer anderen klinischen Praxis. Diese vier Modelle sind nicht als sich gegenseitig ausschließende Dogmen zu verstehen, sondern als unterschiedliche Linsen, durch die wir die komplexe Realität eines Falles wie den von Herrn Koops betrachten können. Ein reifer Kliniker wird intuitiv zwischen diesen Perspektiven wechseln, je nachdem, was die klinische Situation erfordert. Die ontologische Bescheidenheit – die Anerkennung, dass der Gegenstand der Psychoanalyse nicht gegeben ist, sondern in einem komplexen Prozess der Konstruktion, der Interaktion und der Interpretation der Negativität erst geschaffen werden muss – ist die Voraussetzung für die spezifische Methodik der psychoanalytischen Erkenntnis, die wir im nächsten Kapitel untersuchen werden.

2.2             Die Methodische Achse – Wie wird Wissen generiert?

Nachdem wir im ersten Kapitel die ontologische Frage nach dem Was der psychoanalytischen Erkenntnis untersucht haben, wenden wir uns nun der ebenso fundamentalen methodischen Frage nach dem Wie zu. Wie genau wird psychoanalytisches Wissen generiert? Ist es das Ergebnis einer deduktiven Anwendung bereits existierender theoretischer Modelle, oder entsteht es emergent aus der klinischen Praxis selbst? Diese Frage nach dem Primat von Theorie oder Praxis bildet die zweite große epistemische Achse, die das Feld der Psychoanalyse durchzieht. Sie ist keine rein akademische Debatte, sondern hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Ausbildung von Analytikern, die klinische Technik und das Selbstverständnis der gesamten Disziplin.

Das Spektrum auf dieser methodischen Achse reicht von einem Pol, der die Theorie als die primäre Quelle der Erkenntnis betrachtet, zu einem entgegengesetzten Pol, der die Praxis – verstanden als eine Kunstfertigkeit oder techné – als den eigentlichen Ursprungsort des Wissens ansieht. An dem einen Ende steht der Analytiker als Experte, der ein komplexes Wissenssystem auf den Einzelfall anwendet, eine sichere Landkarte nutzt, um das unwegsame Gelände der Psyche zu vermessen. Seine Logik ist die der Erklärung, der Subsumtion, der Verifikation. Am anderen Ende steht der Analytiker als Künstler oder Handwerker, der sich auf seine Intuition, seine Erfahrung und seine Fähigkeit verlässt, im Dunkeln zu tasten und aus dem Material selbst eine neue Einsicht zu formen. Seine Logik ist die der Entdeckung, der Emergenz, der Überraschung.

Dieses Kapitel wird beide Pole dieses Spannungsfeldes detailliert untersuchen, ihre jeweiligen theoretischen Grundlagen, klinischen Implikationen und ihre Bedeutung für den Fall von Herrn Koops beleuchten. Wir beginnen mit der Analyse des Paradigmas, das der Theorie den Vorrang gibt, da es dem dominanten Wissenschaftsverständnis der Moderne entspricht und eine starke, kohärente Begründung für die psychoanalytische Praxis zu liefern scheint.

2.2.1          Das Primat der Theorie: Psychoanalyse als angewandte Wissenschaft

Die Auffassung, dass eine solide theoretische Grundlage die Voraussetzung für jede wissenschaftliche und klinische Praxis ist, ist tief in der Tradition der Aufklärung und des wissenschaftlichen Positivismus verwurzelt. In diesem Modell wird Wissen zunächst in Form von allgemeinen, systematischen Theorien und Gesetzen generiert. Die klinische Praxis erscheint dann als ein logischer, deduktiver Prozess: Aus den allgemeinen Prinzipien der Theorie wird das Besondere des Einzelfalls erklärt, verstanden und behandelt. Es ist daher nicht überraschend, dass auch innerhalb der Psychoanalyse starke und historisch bedeutsame Tendenzen bestehen, sich diesem Paradigma anzuschließen und die eigene Disziplin primär über ihren theoretischen Korpus zu definieren.

Die Anziehungskraft dieses Modells ist immens und seine Argumente sind gewichtig. Eine ausdifferenzierte Theorie, wie sie die Psychoanalyse in über hundert Jahren entwickelt hat, bietet einen unschätzbaren Schatz an Wissen über die menschliche Entwicklung, die Struktur der Psyche, die Entstehung von Psychopathologie und die Prinzipien therapeutischer Veränderung. Sie ist das kumulierte Erbe von Generationen von Klinikern und Forschern. Ein Analytiker, der sich auf diesen soliden Korpus von Theorien – sei es die Triebtheorie, die Ich-Psychologie, die Objektbeziehungstheorie oder die Selbstpsychologie – stützen kann, betritt die oft chaotische und emotional turbulente klinische Situation nicht als naiver Beobachter, sondern als ein gut ausgerüsteter Experte.

Die Theorie bietet ihm eine Landkarte, ein Deutungsraster, mit dessen Hilfe er die unübersichtlichen und oft widersprüchlichen Phänomene des Einzelfalls ordnen, klassifizieren und verstehen kann. Sie schützt vor der Willkür des rein Subjektiven, vor dem Verlorengehen im Labyrinth der Assoziationen des Patienten. Sie ermöglicht eine systematische, nachvollziehbare und lehrbare Form der Praxis. Ohne einen solchen theoretischen Rahmen, so die zentrale Prämisse dieses Pols, wäre die psychoanalytische Arbeit beliebig, impressionistisch und letztlich nicht von der eines wohlmeinenden, aber laienhaften Gesprächspartners zu unterscheiden. Die Theorie garantiert die Professionalität und die wissenschaftliche Ernsthaftigkeit des Unterfangens. Sie erlaubt es, Hypothesen zu bilden, Interventionen zu planen und den therapeutischen Prozess zu evaluieren. In den Worten von Thomä & Kächele (2006) sind metapsychologische Aussagen nur insoweit von erfahrungswissenschaftlicher Bedeutung, als sie durch klare Regeln mit der Beobachtung verbunden werden können.

Diese Position manifestiert sich am deutlichsten in der institutionellen Selbstdarstellung der Psychoanalyse. Giovanni Vassalli (2005) hat in einer scharfsinnigen Analyse die „epistemologische Rochade“ (S. 561) nachgezeichnet, die sich im Vergleich von Freuds eigener Definition der Psychoanalyse mit jener der International Psychoanalytical Association (IPA) zeigt. Freud schrieb 1923: „Psychoanalyse ist der Name 1. eines Verfahrens zur Untersuchung seelischer Vorgänge […]; 2. einer Behandlungsmethode […], die sich auf diese Untersuchung gründet; 3. einer Reihe von psychologischen, auf solchem Wege gewonnenen Einsichten, die allmählich zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin zusammenwachsen.“ (Freud, 1923a, S. 211). In Freuds Formulierung ist die Hierarchie eindeutig: Am Anfang steht ein Verfahren, eine Untersuchungstechnik, also die Praxis. Aus dieser Technik leitet sich die Behandlungsmethode ab. Und erst als Resultat dieses praxeologischen Weges entsteht „allmählich“ die Theorie. Die Praxis gebiert die Theorie.

Die Satzungen der IPA, wie Vassalli (2005, S. 561) sie zitiert, kehren diese Reihenfolge um: „Der Begriff ›Psychoanalyse‹ bezieht sich auf eine Theorie über die Struktur und Funktion der Persönlichkeit, auf die Anwendung dieser Theorie […] und schließlich auf eine bestimmte psychotherapeutische Methode.“ Hier steht die Theorie an erster, unangefochtener Stelle. Die Methode ist nur noch eine nachgeordnete „Anwendung“ dieser Theorie. Diese institutionelle Selbstdefinition repräsentiert einen fundamentalen Wandel im Selbstverständnis der Disziplin. Die Psychoanalyse erscheint hier nicht mehr als eine riskante Forschungsexpedition ins Unbekannte, sondern als ein etabliertes Wissenssystem, das verwaltet und appliziert wird. Diese Entwicklung ist verständlich als Versuch, die Psychoanalyse im Kanon der etablierten Wissenschaften zu verankern und ihre Lehrbarkeit und institutionelle Stabilität zu sichern.

Das klinische Arbeitsmodell, das aus diesem Paradigma folgt, ist das des theoriegeleiteten Experten. Seine Arbeit lässt sich in drei Schritten beschreiben, die wir am Fall von Herrn Koops illustrieren können.

In der Diagnose filtert der Analytiker das klinische Material durch das Raster seiner bevorzugten Theorie. Er hört nicht voraussetzungslos zu, sondern sucht aktiv nach den Phänomenen, die seine theoretischen Konzepte beschreiben. Im Fall von Herrn Koops würde ein Analytiker, der der Objektbeziehungstheorie Otto Kernbergs folgt, gezielt nach den Anzeichen für eine Borderline-Persönlichkeitsorganisation suchen: Identitätsdiffusion, primitive Abwehrmechanismen, instabile Objektbeziehungen. Er würde das Gespräch so strukturieren – wie es Kernberg in der geschilderten Szene tut, indem er direkt nach der Identität fragt –, dass diese theoretischen Konstrukte überprüft werden können. Die langen, ratlosen Pausen von Herrn Koops, sein Ausweichen und seine Unfähigkeit, eine kohärente Antwort zu geben, werden nicht einfach als Prozessphänomene gesehen, sondern als direkte Bestätigung der theoretischen Annahme einer Identitätsdiffusion. Die Diagnose ist hier ein Akt der Subsumtion: Das individuelle Leiden des Patienten wird einer allgemeinen theoretischen Kategorie zugeordnet, was Orientierung und eine Grundlage für das weitere Vorgehen schafft.

Die Intervention, insbesondere die Deutung, ist eine deduktive Ableitung aus der Theorie. Sie erklärt dem Patienten, wie sein Leiden aus den von der Theorie postulierten Mechanismen resultiert. Einem Patienten wie Koops würde man beispielsweise erklären: „Ihre Neigung, die Welt in Gut und Böse aufzuteilen, ist ein Abwehrmechanismus, den wir als ‚Spaltung‘ kennen. Er dient dazu, die unerträgliche Ambivalenz Ihrer frühen Beziehungserfahrungen abzuwehren, führt aber heute dazu, dass Ihre Beziehungen so instabil sind.“ Die Einsicht in diesen theoretisch begründeten Zusammenhang soll zur Heilung führen. Die Deutung ist hier kein gemeinsames Suchen, sondern eine Wissensvermittlung, eine Erklärung, die vom Experten an den Laien weitergegeben wird. Kernbergs Konfrontation in der Szene – „Wie bringen Sie das zusammen…?“ – kann in diesem Licht als ein didaktischer Schritt verstanden werden, der den Patienten zur Akzeptanz der theoretischen Erklärung hinführen soll, indem er die Inkonsistenz seiner eigenen, naiven Theorie aufdeckt.

Die Haltung des Analytikers ist die eines Experten, der „weiß“. Er besitzt das theoretische Wissen, das dem Patienten fehlt. Seine Rolle ist die eines aufdeckenden, erklärenden und oft auch konfrontierenden Wissensvermittlers, der aus einer Position der relativen Distanz agiert. Er wendet ein Wissen an, das außerhalb der unmittelbaren klinischen Situation generiert wurde und das ihm erlaubt, die Phänomene zu objektivieren.

Die unbestreitbare Stärke dieses Modells liegt in seiner Systematik, seiner Lehrbarkeit und seiner Fähigkeit, komplexe und chaotische Phänomene zu ordnen. Es bietet einen Schutz vor der Willkür des rein Impressionistischen und ermöglicht eine kohärente, intersubjektiv überprüfbare Form der Praxis. Für die Forschung ist dieses Modell attraktiv, weil es erlaubt, psychoanalytische Konzepte zu operationalisieren und in empirischen Studien zu testen, wie es beispielsweise in der Tradition der „Psychodynamischen Psychotherapieforschung“ (Levy, Ablon & Kächele, 2012) versucht wird. Für die Behandlung bietet es dem Patienten einen klaren, verständlichen Rahmen, der Angst reduzieren und Hoffnung auf eine systematische Lösung seiner Probleme vermitteln kann. Es schützt sowohl Patient als auch Therapeut vor dem Gefühl, in einem unstrukturierten, endlosen Prozess verloren zu gehen. Seine Schwäche jedoch, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, liegt in seiner potenziellen Rigidität und seiner Tendenz, die einzigartige, lebendige Realität des Patienten durch das Raster einer vorgefertigten Theorie zu ersetzen.

2.2.2          Die Flucht in die Theorie: Widerstand gegen die Praxis

Wenn das theoriegeleitete Modell Sicherheit und Ordnung verspricht, warum wird es dann von vielen modernen Psychoanalytikern kritisiert? Die Antwort liegt in der Natur der analytischen Praxis selbst. Die Begegnung mit dem Unbewussten ist, wie wir im Fall Koops gesehen haben, eine Begegnung mit dem Widersprüchlichen, dem Chaotischen und dem emotional Überwältigenden. Die klinische Realität ist selten so ordentlich wie die theoretischen Modelle. Die Flucht in die Theorie kann daher als ein anspruchsvoller Abwehrmechanismus verstanden werden – als ein „Widerstand gegen die Psychoanalyse vonseiten des Psychoanalytikers“ (Haesler, 1995, S. 60).

Ludwig Haesler (1995) hat argumentiert, dass die größten Widerstände gegen das Revolutionäre der psychoanalytischen Methode oft von den Analytikern selbst ausgehen. Diese „inneren“ Widerstände entspringen denselben Quellen wie die äußeren: Sie richten sich gegen die Zumutungen, die die Begegnung mit dem Unbewussten an das eigene Ich stellt.

Die Angst vor der Unsicherheit und dem Nicht-Wissen: Die psychoanalytische Praxis ist, wie Vassalli es nennt, ein „Hinausbauen ins Dunkle“. Die Haltung des offenen, nicht-wissenden Zuhörens, der Verzicht auf eine vorgefertigte Landkarte, ist zutiefst verunsichernd. Sie konfrontiert den Analytiker mit seiner eigenen Begrenztheit, seiner Abhängigkeit vom Patienten und der Unvorhersehbarkeit des Prozesses. Die Theorie bietet dagegen eine trügerische Sicherheit. Sie liefert fertige Kategorien, diagnostische Labels („Borderline-Störung“) und kausale Erklärungen, die das Chaos des klinischen Materials ordnen und die Angst vor dem Unbekannten reduzieren. Haesler (1995) beschreibt, wie Konzepte wie „Alexithymie“ oder Entwicklungspsychologie missbraucht werden können, um den Patienten in ein vorgefertigtes Schema zu pressen, anstatt sich auf die „komplexe Dynamik der subjektiven Erlebniswelt“ (S. 62) einzulassen. Im Fall Koops könnte ein Analytiker aus Angst vor der Wucht von Koops‘ Aggression und Verzweiflung vorschnell die Diagnose „Borderline“ stellen, um die beunruhigenden Phänomene zu etikettieren und damit zu bannen, anstatt sie in ihrer rohen Form auf sich wirken zu lassen.

Der narzisstische Wunsch nach Expertise und Kontrolle: Das Modell des theorieanwendenden Experten schmeichelt dem Narzissmus des Analytikers. Er ist derjenige, der „weiß“, der deutet, der heilt. Das Modell einer praxisbasierten Kunstfertigkeit hingegen positioniert ihn als einen, der im Dunkeln tappt, der auf die Einfälle und Assoziationen des Patienten angewiesen ist, der Fehler macht und oft ratlos ist. Die konjekturale Methode ist eine demütige Methode. Die Flucht in die Theorie ist oft auch eine Flucht vor dieser Demut, ein Versuch, die asymmetrische Machtstruktur der therapeutischen Beziehung aufrechtzuerhalten, in der der Analytiker die Position des „sujet supposé savoir“ (des Subjekts, dem unterstellt wird zu wissen) einnimmt, wie Jacques Lacan es nannte (Warsitz & Küchenhoff, 2015, S. 103). Ein Analytiker, der Koops schnell und sicher seine Pathologie erklärt, behält die Kontrolle und muss sich nicht dem Gefühl der Ohnmacht aussetzen, das Koops in ihm auslösen könnte.

Die Konsequenz dieser Theorie-Dominanz ist ein zunehmender Dogmatismus. Die Theorie wird von einem heuristischen Werkzeug, das die Wahrnehmung schärfen soll, zu einem dogmatischen System, das sie blockiert. Der Analytiker findet nur noch das, was er bereits weiß. Die einzigartige, unvorhersehbare Dynamik des Einzelfalls geht verloren. Der Patient, in unserem Beispiel Herr Koops, wird zum „angewandten Patienten“ (Haesler, 1995), einem bloßen Exemplar einer theoretischen Kategorie, dessen lebendige, widersprüchliche Realität hinter der diagnostischen Fassade verschwindet. In dieser kritischen Perspektive erscheint das Primat der Theorie nicht als Zeichen wissenschaftlicher Reife, sondern als Symptom eines Widerstands gegen die radikalen epistemologischen Anforderungen der psychoanalytischen Praxis.

2.2.3          Die Kunst der Praxis: Die Rehabilitation der griechischen techné

Der Gegenentwurf zum theoriegeleiteten Paradigma ist die Konzeption der Psychoanalyse als eine fundamental praxisbasierte Disziplin. In diesem Modell ist die Theorie nicht die Voraussetzung, sondern das Produkt der klinischen Arbeit. Giovanni Vassalli (2005) hat in seiner wegweisenden Arbeit argumentiert, dass die epistemologische Originalität Freuds nicht in seinen Theorien liegt, sondern in seiner Technik. Um die radikale Neuheit dieser Technik zu verstehen, so Vassalli, müsse man sich von den Wissenschaftsidealen der Moderne lösen und auf eine ältere Wissenstradition zurückgreifen: die griechische Konzeption der techné.

In der aristotelischen Philosophie bezeichnet techné (lat. ars) ein spezifisches Wissen, das sich vom rein theoretischen Wissen der Wissenschaft (epistéme) unterscheidet. Während die epistéme sich mit dem Notwendigen und Immergleichen befasst (den Gesetzen der Natur), ist die techné die Kunst des Umgangs mit dem Kontingenten, dem Werdenden und dem Unvorhersehbaren (Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1140a). Sie ist kein Wissen über etwas, sondern ein Wissen, wie man etwas herstellt (poiesis). Ihr Gegenstand ist nicht ein bereits existierendes Ding, das beobachtet wird, sondern ein Werk, das erst im Prozess des Machens entsteht.

Vassalli (2005) argumentiert überzeugend, dass Freuds Methode genau dieser Logik der techné folgt. Freud selbst hat diesen Weg schrittweise vollzogen. Er begann als Naturwissenschaftler, aber sein Aufenthalt bei Charcot bestärkte ihn in seiner Präferenz für die geduldige, wiederholte Beobachtung, aus der plötzlich das „Verständnis“ aufging (Freud, 1893f). Der entscheidende Bruch erfolgte jedoch, als Freud das Experiment verabschiedete und die Sprache zum zentralen Instrument erklärte. In seiner Schrift „Psychische Behandlung (Seelenbehandlung)“ (1890a) definierte er diese als eine „Behandlung von der Seele aus … mit Mitteln, welche zunächst und unmittelbar auf das Seelische des Menschen einwirken. Ein solches Mittel ist vor allem das Wort, und Worte sind auch das wesentliche Handwerkszeug der Seelenbehandlung“ (S. 289).

Mit dieser Weichenstellung betritt Freud das Feld der techné. Worte sind hier keine neutralen Bezeichnungen für psychische Zustände, sondern Werkzeuge, die eine Wirkung entfalten. Die Psychoanalyse wird zu einer rhetorischen Kunst, einer Kunst, durch Sprache Überzeugungen zu schaffen und Veränderungen zu bewirken (Vassalli, 2005, S. 565).

Die Konsequenzen dieses praxeologischen Primats sind tiefgreifend. Wenn die Psychoanalyse eine techné ist, dann kann ihr Wissen nicht in einem abstrakten, theoretischen Korpus fixiert werden. Es ist ein implizites, verkörpertes Wissen, ein savoir-faire, das in der Ausübung der Kunst selbst liegt. Es wird nicht primär durch das Studium von Büchern, sondern durch Erfahrung, Übung und die Kultivierung einer spezifischen Wahrnehmungs- und Interventionsfähigkeit erworben. Die Theorie ist nicht die Voraussetzung der Technik, sondern ihr „Niederschlag“, wie Freud es selbst formulierte: Sie fällt ihm „als ungebetener Gast ins Haus“, während er mit der praktischen Detailuntersuchung beschäftigt ist (Freud, 1960a, S. 414).

In der Arbeit mit Herrn Koops bedeutet dies: Anstatt ihn in das fertige Schema einer Borderline-Störung zu pressen, agiert der Analytiker wie ein Handwerker. Er nimmt das ihm zur Verfügung gestellte „Material“ – Koops‘ Sprache, sein Schweigen, seine Widersprüche, seine gewalttätigen Handlungen – und versucht, daraus etwas Neues zu formen: eine neue Einsicht, eine neue Geschichte, eine neue Möglichkeit, in der Welt zu sein.

2.3             Die konjekturale Methode: Vom Anzeichen zur Vermutung

Wenn die Psychoanalyse eine techné ist, die sich mit dem Unbekannten befasst, dann muss ihr zentrales Erkenntnisverfahren eines sein, das in einem Zustand des Nicht-Wissens operieren kann. Freud hat für dieses Verfahren einen Begriff verwendet, der den Kern seiner Methode trifft: das „Erraten“.

In den Studien über Hysterie beschreibt Freud wiederholt, dass es darauf ankommt, dass der Arzt die Motive der Abwehr „ungefähr erraten“ haben muss, um den Widerstand des Patienten zu überwinden (Freud, 1895d, S. 285). Das „Erraten“ ist hier, wie Vassalli (2005) zeigt, kein willkürliches Raten, sondern ein disziplinierter Akt, der aus den „Anzeichen“ und „Spuren“, die das Verdrängte hinterlassen hat, auf das Verborgene schließt. Es ist ein „Sprung“ von der manifesten Oberfläche zur latenten Bedeutung, der im Zustand des Nicht-Wissens vollzogen wird.

Diese Methode gründet auf einer spezifischen Form der Rationalität, die Vassalli als konjekturale Vernunft bezeichnet. Im Gegensatz zur deduktiven Vernunft, die aus sicheren Prämissen zwingende Schlüsse zieht, operiert die konjekturale Vernunft mit unvollständigen Daten und unsicheren Hypothesen. Sie ist die Vernunft des Detektivs, des Archäologen oder des Arztes. Freud selbst beschrieb diese Methode, als er von der Notwendigkeit sprach, die „Lücken unserer Bewußtseinsphänomene auszufüllen“ (Freud, 1940a, S. 127).

Die Logik dieser Methode wurde vom amerikanischen Philosophen Charles S. Peirce als Abduktion beschrieben. Im Gegensatz zu Deduktion (Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere) und Induktion (Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine) ist die Abduktion der kreative, hypothesebildende Schluss von einer überraschenden Beobachtung auf die bestmögliche Erklärung. Sie ist die Logik der Entdeckung, nicht die der Verifikation.

Die Szene mit Herrn Koops  lässt sich als gutes Beispiel für diesen Prozess heranziehen:

1.          Die Spur (Die rätselhafte Beobachtung): Der Ausgangspunkt ist nicht eine Theorie, sondern Koops‘ paradoxe Aussage: „Sie haben vielleicht Angst davor, dass ich sie so sehr liebe.“ Diese Aussage ist die überraschende Beobachtung, die nach einer Erklärung verlangt, weil sie nicht zur Realität der Gewalt und der Flucht der Frauen passt.

2.          Die Konjektur (Das „Erraten“ einer Hypothese): Kernbergs abduktiver Sprung besteht darin, die Vermutung aufzustellen, dass der Kern des Problems der unintegrierte Widerspruch zwischen Koops‘ Selbstbild und seiner Realität ist. Er „errät“, dass Koops‘ „Liebe“ und seine „Gewalt“ zwei Seiten derselben Medaille sein müssen und dass sein idealisiertes Selbstbild eine Abwehr gegen die Wahrnehmung seiner Aggression ist.

3.          Die Intervention (Das dialogische Angebot): Die konjekturale Erkenntnis mündet nicht in einer autoritären Feststellung, sondern in einem dialogischen Angebot. Kernbergs entscheidende Frage – „Wie bringen Sie das zusammen…?“ – ist die perfekte konjekturale Intervention. Er sagt nicht „Sie spalten!“, sondern: „Ich habe hier eine Vermutung über einen Widerspruch in Ihnen. Schauen wir uns das gemeinsam an.“

4.          Die emergente Erkenntnis (Das Ergebnis der Praxis): Die „Wahrheit“ der Konjektur erweist sich erst in der Reaktion des Patienten. Koops‘ zögerliche, aber bahnbrechende Einsicht – „Vielleicht bin ich gar keine so liebevolle Person. Offenbar bin ich es nicht, denn sonst wäre ich jetzt nicht allein“ – ist nicht das Ergebnis einer Theorieanwendung, sondern das Produkt dieser gemeinsamen, im Dunkeln tastenden Praxis. Die Erkenntnis ist emergent, dialogisch und fundamental an die klinische Situation gebunden.

Die methodische Achse stellt somit eine Weiche zwischen zwei fundamental unterschiedlichen Auffassungen von analytischer Arbeit dar. Die Entscheidung für das Primat der Praxis ist die Voraussetzung für eine Epistemologie des Nicht-Wissens, in der die Unsicherheit nicht als Problem, sondern als produktive Chance begriffen wird.

2.4             Die Subjektive Achse – Die Person des Analytikers als Erkenntnisinstrument

Nachdem wir uns mit der ontologischen Frage nach dem Was und der methodischen Frage nach dem Wie der psychoanalytischen Erkenntnis befasst haben, wenden wir uns nun der vielleicht heikelsten und zugleich revolutionärsten Dimension zu: der Frage nach dem Subjekt der Erkenntnis – dem Wer. Die dritte epistemische Achse, die wir als Achse der Person des Analytikers verstehen können, spannt sich zwischen den Polen der Distanz und der Resonanz auf. Sie verhandelt die Rolle der Subjektivität des Analytikers im Erkenntnisprozess. Ist der Analytiker ein neutraler, objektiver Beobachter, dessen eigene Person idealerweise unsichtbar bleibt, um die reine Wahrheit des Patienten zu enthüllen? Oder ist seine Subjektivität – seine Gefühle, sein Körper, seine gesamte Person – das zentrale und unverzichtbare Instrument, um die unbewusste Welt des Patienten überhaupt erfassen zu können?

Die Geschichte der psychoanalytischen Epistemologie kann als eine fortschreitende Bewegung auf dieser Achse gelesen werden: von einem objektivistischen Ideal der Distanz hin zu einer radikalen Bejahung der Intersubjektivität und der Resonanz. Diese Entwicklung ist untrennbar mit der Neubewertung des Konzepts der Gegenübertragung verbunden. Was einst als größter Störfaktor und als blinder Fleck des Analytikers galt, wird in der modernen Psychoanalyse zum primären Erkenntnisinstrument, zum „königlichen Tor zum Unbewussten des Patienten“ (Heimann, 1950).

Dieses Kapitel zeichnet diese epistemologische Wende nach. Wir beginnen mit der Analyse des klassischen Ideals der Distanz, wie es in Freuds Forderung nach der Neutralität des „Spiegels“ zum Ausdruck kommt (3.1). Anschließend untersuchen wir den Paradigmenwechsel, der mit der Neubewertung der Gegenübertragung durch Autoren wie Paula Heimann und Heinrich Racker eingeleitet wurde und sie vom Hindernis zum Instrument umdeutete (3.2). Der dritte Abschnitt vertieft dieses Verständnis, indem er die intersubjektive und verkörperte Natur der Resonanz beleuchtet. Hier werden wir sehen, wie Konzepte wie Embodiment und Prosodie den Körper des Analytikers als zentralen Resonanzraum für vorsprachliche Kommunikation etablieren (3.3). Schließlich werden wir die klinischen Implikationen dieser Achse anhand der von Wolfgang Mertens (2021) skizzierten Entscheidungspunkte diskutieren und auf den Fall Koops anwenden, um zu zeigen, wie die Positionierung auf dieser Achse die klinische Praxis fundamental gestaltet (3.4).

Die Reise entlang der subjektiven Achse ist eine Reise zur Anerkennung der Tatsache, dass psychoanalytisches Wissen niemals objektiv im Sinne einer Beobachtung von außen sein kann. Es ist immer ein Wissen, das durch die Subjektivität des Erkennenden geformt und vermittelt wird. Die Kunst des Analytikers besteht nicht darin, seine Subjektivität zu eliminieren, sondern darin, sie zu schulen, zu reflektieren und als das empfindlichste Instrument zu nutzen, das ihm zur Verfügung steht.

2.4.1          Das Ideal der Distanz: Der Analytiker als neutraler Beobachter

Das klassische Modell der psychoanalytischen Technik, wie es sich aus Freuds wissenschaftlichem Projekt ableitet, ist von einem Ideal der Distanz und Objektivität geprägt. In Anlehnung an das naturwissenschaftliche Paradigma seiner Zeit strebte Freud danach, die psychoanalytische Situation so zu gestalten, dass sie einer kontrollierten Beobachtung möglichst nahekam. Der Analytiker sollte die Position eines neutralen Experten einnehmen, der die intrapsychischen Prozesse des Patienten von außen betrachtet und analysiert. Dieses Modell entspricht einer Ein-Personen-Psychologie, in der die Psyche des Patienten der alleinige Untersuchungsgegenstand ist und die Person des Analytikers idealerweise keinen Einfluss auf das zu beobachtende Phänomen nehmen soll.

Freud hat diese Haltung in seinen technischen Schriften mit mehreren berühmten Metaphern beschrieben. Die bekannteste ist die des Spiegels: „Er [der Arzt] soll wie ein Spiegel sein, nichts anderes zeigen, als was ihm gezeigt wird.“ (Freud, 1912e, S. 381). Der Analytiker soll die Projektionen des Patienten passiv und unverzerrt reflektieren, ohne eigene Inhalte, Gefühle oder Wertungen hinzuzufügen. Eine weitere Metapher ist die des Chirurgen, der seine eigenen Affekte beiseitelegt und „kalt“ operiert, um mit maximaler Präzision und ohne persönliche Beteiligung die Deutungen zu setzen, die zur Heilung notwendig sind (Freud, 1912e, S. 379). Diese Bilder vermitteln eine klare Botschaft: Die Persönlichkeit und die Gefühle des Analytikers sollen im analytischen Prozess keine Rolle spielen. Sie sind potenzielle Störfaktoren, die die „reine Kultur“ der Übertragung des Patienten kontaminieren könnten.

Diese Forderung nach technischer Neutralität und Abstinenz hat mehrere epistemologische Funktionen:

  1. Sichtbarmachung der Übertragung: Nur wenn der Analytiker eine möglichst „leere Leinwand“ (blank screen) bietet, kann die Übertragung des Patienten – also die Projektion seiner inneren Objektwelt und vergangenen Beziehungsmuster – in reiner Form hervortreten. Jede persönliche Äußerung des Analytikers würde diese Projektion verzerren und es unmöglich machen, zwischen dem, was vom Patienten kommt, und dem, was vom Analytiker kommt, zu unterscheiden.
  2. Gewährleistung der Objektivität: Die Neutralität soll die Objektivität der Deutungen sicherstellen. Sie sollen sich allein aus der Analyse des vom Patienten produzierten Materials ergeben und nicht aus den persönlichen Vorlieben, Werten oder Konflikten des Analytikers.
  3. Vermeidung von Suggestion: Die Abstinenz – der Verzicht auf die Erfüllung der Wünsche des Patienten – soll die Gefahr der Suggestion minimieren. Die therapeutische Veränderung soll aus der Einsicht des Patienten resultieren und nicht aus seiner unbewussten Gefälligkeit gegenüber dem Analytiker oder dem Wunsch, ihn zufriedenzustellen.

Innerhalb dieses objektivistischen Paradigmas ist die Gegenübertragung – die Gesamtheit der unbewussten emotionalen Reaktionen des Analytikers auf den Patienten – zwangsläufig ein Problem. Freud (1910) definierte sie als das Ergebnis der unanalysierten Konflikte und „blinden Flecken“ des Analytikers. Sie ist ein Widerstand aufseiten des Analytikers, der seine Fähigkeit, das Material des Patienten klar zu sehen und objektiv zu deuten, beeinträchtigt. Die technische Konsequenz war eindeutig: Die Gegenübertragung musste erkannt und durch Lehranalyse „gemeistert“ und kontrolliert werden. Sie ist etwas, das überwunden werden muss, um wieder zur objektiven Beobachtungsposition zurückkehren zu können.

Das klinische Arbeitsmodell, das aus diesem Ideal der Distanz folgt, ist das des Experten oder Archäologen. In der Arbeit mit Herrn Koops würde ein Analytiker dieser Schule versuchen, von dessen massivem Misstrauen und seinen impliziten Angriffen unberührt zu bleiben. Er würde seine eigenen Gefühle (z.B. Angst, Ärger oder Verunsicherung) als Störfaktor betrachten, der seine diagnostische Klarheit trübt. Sein Vorgehen wäre, wie Mertens (2021) es beschreibt, von technischer Neutralität geprägt. Er würde „an“ der Übertragung arbeiten (Körner, 2014), indem er sie als ein Phänomen des Patienten beobachtet und ihm dessen verzerrte Wahrnehmung von außen deutet. Eine typische Intervention könnte lauten: „Es scheint, als würden Sie in mir die verräterischen Therapeuten aus Ihrer Vergangenheit sehen und deshalb befürchten, dass auch ich mich gegen Sie verschwören könnte.“ Das Ziel dieser Intervention ist es, Koops durch Einsicht in seine Projektionen zu helfen, eine klarere Unterscheidung zwischen seiner inneren Welt und der äußeren Realität zu treffen. Der Analytiker fungiert hier als eine „leere Leinwand“ (blank screen), die es dem Patienten ermöglicht, seine inneren Objektbeziehungen zu externalisieren und sie der Analyse zugänglich zu machen.

Obwohl dieses Ideal der reinen Objektivität heute weithin als eine unerreichbare und sogar unerwünschte Fiktion gilt, hat es die psychoanalytische Technik und Ausbildung über Jahrzehnte geprägt. Seine unbestreitbare Stärke lag in der Betonung der wissenschaftlichen Disziplin und der Notwendigkeit für den Analytiker, sich selbst und seine eigenen Motive kritisch zu reflektieren. Seine fundamentale Schwäche lag in der Vernachlässigung der reichsten und unmittelbarsten Quelle psychoanalytischer Erkenntnis: der emotionalen Realität der therapeutischen Beziehung.

2.4.2          Die Wende zur Resonanz: Die Subjektivität als Instrument

Eine äußerst folgenreiche epistemologische Wende in der Geschichte der Psychoanalyse nach Freud betrifft die radikale Neubewertung des Konzepts der Gegenübertragung. Was einst als bedauerliches Hindernis galt, wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts zum unverzichtbaren Erkenntnisinstrument umgedeutet. Dieser Paradigmenwechsel markiert die Bewegung auf der subjektiven Achse von der Distanz zur Resonanz und stellt die Subjektivität des Analytikers endgültig ins Zentrum des Wissensprozesses. Dieses Modell entspricht einer Zwei-Personen-Psychologie, in der die Interaktion selbst zum Fokus wird.

Der Anstoß zu dieser Wende kam in den 1950er Jahren aus dem Kreis der Kleinianischen Analyse. Paula Heimann (1950) formulierte als eine der Ersten die revolutionäre These, dass die Gegenübertragung nicht nur ein Hindernis, sondern das „wichtigste Instrument“ des Analytikers sei. Sie definierte sie umfassend als die „totale emotionale Reaktion“ des Analytikers auf den Patienten in der Behandlungssituation. Heimann argumentierte, dass das Unbewusste des Analytikers das Unbewusste des Patienten versteht und dass die Gefühle, die im Analytiker entstehen – seien es Liebe, Hass, Angst oder Verwirrung –, eine direkte und bedeutsame Antwort auf die unbewussten Projektionen und Inszenierungen des Patienten sind.

Heinrich Racker (1957) differenzierte dieses Konzept weiter. Er unterschied zwischen:

  • Konkordanter Identifizierung: Der Analytiker identifiziert sich mit den entsprechenden Anteilen im Selbst des Patienten. Er fühlt, was der Patient (bewusst oder unbewusst) fühlt oder auch noch nicht fühlt, aber fühlen könnte (wenn die Abwehr bearbeitet wäre). Wenn Herr Koops von seiner Verzweiflung spricht, spürt der Analytiker eine Resonanz dieser Verzweiflung in sich.
  • Komplementärer Identifizierung: Der Analytiker identifiziert sich mit den inneren Objekten des Patienten. Er fühlt und handelt so, wie sich die signifikanten Bezugspersonen in der Vergangenheit des Patienten verhalten haben. Wenn Herr Koops unbewusst seine anklagende Mutter auf den Analytiker überträgt, spürt dieser vielleicht den Impuls, Herrn Koops seinerseits anzuklagen oder sich von ihm zu distanzieren.

In dieser Sichtweise ist die Gegenübertragung nicht mehr primär ein Ausdruck der Pathologie des Analytikers, sondern eine valide und unverzichtbare Informationsquelle über die inneren Objektbeziehungen und die unbewusste Dynamik des Patienten. Sie ist, wie Heimann (1950, S. 83) es formulierte, das „königliche Tor zum Unbewussten des Patienten“.

Diese Neubewertung bedeutet jedoch nicht, dass die Gefühle des Analytikers unkritisch für bare Münze genommen werden können. Die Gegenübertragung ist ein rohes Datum, das der sorgfältigen Analyse und Reflexion bedarf. Der Analytiker muss lernen, zwischen seinen eigenen, idiosynkratischen Reaktionen, die aus seiner persönlichen Geschichte stammen, und jenen Reaktionen zu unterscheiden, die spezifisch durch den Patienten und die interaktive Dynamik hervorgerufen werden. Die Fähigkeit, die eigene Gegenübertragung als Erkenntnisinstrument zu nutzen, erfordert daher eine hohe psychische Reife und eine intensive Schulung, wie sie in der Lehranalyse und Supervision angestrebt wird. Sie erfordert, wie Wilfred Bion es mit dem Konzept des „Containments“ beschrieb, die Fähigkeit, die oft intensiven und beunruhigenden Affekte, die der Patient in ihn projiziert (projektive Identifizierung), in sich zu enthalten, ohne sie abzuwehren oder auszuleben. Der Analytiker wird zum „Container“ für die unverdauten Ängste des Patienten, um sie zu verarbeiten und in einer mentalisierten Form zurückzugeben.

Das klinische Arbeitsmodell, das sich aus dieser Position ergibt, ist das des resonanten Teilnehmers. In der Arbeit mit Herrn Koops würde der Analytiker seine eigene emotionale Reaktion – z.B. das Gefühl, angegriffen und zu einer Rechtfertigung gezwungen zu werden – als zentrales Datum nehmen. Er würde es nicht als Störung, sondern als wertvolle Information über Koops‘ innere Welt betrachten: „Offenbar inszeniert Herr Koops hier eine Situation, in der ich mich so fühlen soll, wie er sich oft fühlt: angeklagt und missverstanden.“ Die Intervention würde dann nicht nur den Patienten, sondern auch die interaktive Dynamik adressieren: „Ich merke, dass ich in Ihrer Gegenwart beginne, mich sehr streng und kritisch zu fühlen, so wie Sie es vielleicht von Ihrem Vater kennen.“ Die Technik verlagert sich von der „Arbeit an der Übertragung“ zur „Arbeit in der Übertragung“ (Körner, 2014).

2.4.3          Die radikale Involvierung: Intersubjektivität und Embodiment

Die relationale und intersubjektive Wende hat die Betonung der Resonanz weiter radikalisiert. Sie argumentiert, dass die Gegenübertragung kein Phänomen ist, das einfach vom Patienten „induziert“ wird, sondern ein co-konstruiertes, intersubjektives Phänomen, das aus der einzigartigen und untrennbaren Verschränkung beider Subjektivitäten hervorgeht (Mitchell, 1997; Aron, 1991). Parallel dazu hat eine zunehmende Fokussierung auf den Körper die Erkenntnis vertieft, dass diese Resonanz nicht nur ein psychischer, sondern auch ein zutiefst körperlicher Prozess ist.

Das Konzept des Embodiment (Verkörperung) betont, dass Geist und Körper keine getrennten Entitäten sind. Kognitive und affektive Prozesse sind fundamental in den sensorischen und motorischen Systemen des Körpers verankert (Leuzinger-Bohleber et al., 2013). Für die psychoanalytische Erkenntnistheorie bedeutet dies, dass die somatische Gegenübertragung des Analytikers – seine körperlichen Empfindungen, vegetativen Reaktionen und Haltungsänderungen während der Sitzung – eine primäre Datenquelle darstellt. Ein plötzliches Gefühl von Müdigkeit, ein Kloß im Hals, eine Anspannung im Nacken, ein aufkommendes Hungergefühl – all dies sind keine zufälligen physiologischen Ereignisse. Sie können subtile, aber präzise Antworten auf die unbewusste, vorsprachliche Kommunikation des Patienten sein (Gentile, 2010). Sie sind oft die erste und direkteste Manifestation einer projektiven Identifizierung, lange bevor der Analytiker in der Lage ist, seine Reaktion kognitiv zu erfassen oder zu verbalisieren. Der Körper des Analytikers fungiert als ein hochempfindlicher Resonanzraum, der die affektiven Schwingungen des analytischen Feldes aufnimmt.

Eng mit dem Konzept des Embodiment verbunden ist die Aufmerksamkeit für die Prosodie der Sprache. Die Erkenntnis, dass unbewusste Kommunikation sich nicht nur im semantischen Inhalt der Worte, sondern in ihrer musikalischen Qualität vollzieht, ist eine zentrale Einsicht der modernen psychoanalytischen Erkenntnistheorie. Autoren wie Julia Kristeva (1980) haben argumentiert, dass die Sprache eine doppelte Struktur hat: eine symbolische (die Ebene der Semantik und Syntax) und eine semiotische (die Ebene des Rhythmus, der Tonalität, des Klangs). Die semiotische Dimension, die Kristeva mit der frühen, vorsprachlichen Mutter-Kind-Beziehung verbindet, ist der Träger der primären, triebhaften und affektiven Prozesse. Das Ohr des Analytikers muss daher geschult sein, nicht nur auf die Worte, sondern auf die „Musik“ der Sitzung zu hören (Knoblauch, 2000). Die Art und Weise, wie ein Patient spricht – schnell oder langsam, laut oder leise, monoton oder melodiös, mit vielen Pausen oder in einem atemlosen Schwall –, kann mehr über seinen unbewussten affektiven Zustand verraten als der Inhalt seiner Sätze. Theodor Reiks (1948) Metapher vom „Hören mit dem dritten Ohr“ verweist genau auf diese Fähigkeit, die nonverbale, verkörperte Dimension der Kommunikation wahrzunehmen.

In der Arbeit mit Herrn Koops bedeutet dies, dass der Analytiker nicht nur auf den Inhalt von Koops‘ paradoxen Aussagen achtet. Er würde auch seine eigene körperliche Reaktion registrieren: Fühlt er sich in seiner Gegenwart angespannt und eingeengt? Spürt er den Impuls, sich körperlich zurückzuziehen? Gleichzeitig würde er die Prosodie von Koops‘ Sprache analysieren: Spricht er monoton und leblos, wenn er von seiner „großen Liebe“ erzählt? Wird seine Stimme scharf und schneidend, wenn er sich als Opfer darstellt? Diese nonverbalen und somatischen Daten sind entscheidende Hinweise auf die verborgene Aggression und die emotionale Leere, die hinter der verbalen Fassade liegen.

2.4.4          Klinische Entscheidungen auf der subjektiven Achse

Die Positionierung des Analytikers auf der Achse zwischen Distanz und Resonanz hat direkte Auswirkungen auf seine klinischen Entscheidungen, wie sie von Wolfgang Mertens (2021) skizziert werden.

  • Dilemma 1: Technische Neutralität vs. authentische Kommunikation?
    Ein Analytiker, der sich am Pol der Distanz orientiert, wird bei Herrn Koops eher die technische Neutralität wahren. Er würde dessen Angriffe und Misstrauen als reines Übertragungsphänomen sehen und vermeiden, persönliche Gefühle preiszugeben, um die Projektionen nicht zu „verunreinigen“. Ein Analytiker am Pol der Resonanz wäre eher bereit, authentisch zu kommunizieren. Er könnte, wie von Owen Renik (1993) vorgeschlagen, seine subjektive Reaktion teilen: „Ihre Anschuldigung, ich sei Teil einer Verschwörung, macht mich betroffen und ich spüre den Impuls, mich zu verteidigen.“ Das Ziel ist hier, die intersubjektive Realität transparent zu machen.
  • Dilemma 2: Arbeit an der Übertragung vs. Arbeit in der Übertragung?
    Ein distanzierter Analytiker arbeitet eher „an“ der Übertragung(Körner, 2014). Er beobachtet sie als ein Phänomen, das Koops produziert, und deutet es von außen: „Sie scheinen zu befürchten, dass ich Sie genauso verraten könnte wie die früheren Therapeuten.“ Ein resonanter Analytiker arbeitet „in“ der Übertragung. Er versteht sich als Mitspieler im unbewussten Drama und analysiert seine eigene Beteiligung am Enactment. Er erkennt, dass Koops ihn nicht nur als Objekt verwendet, sondern ihn unbewusst dazu bringt, eine bestimmte Rolle zu übernehmen – wie von Joseph Sandler (1976) mit dem Konzept der „Rollenempfänglichkeit“ beschrieben.
  • Dilemma 3: Analytiker als Übertragungs-Objekt vs. Entwicklungsobjekt?
    Am Pol der Distanz fungiert der Analytiker primär als Übertragungsobjekt. Seine Aufgabe ist es, eine neutrale Fläche für die Projektion von Koops‘ alten Beziehungserfahrungen (z.B. mit der misstrauischen, anklagenden Mutter) zu bieten, damit diese gedeutet und durch Einsicht verändert werden können.
    Am Pol der Resonanz kann der Analytiker auch als Entwicklungsobjekt fungieren. Insbesondere bei einem Patienten wie Koops mit deutlichen strukturellen Defiziten kann die empathische, haltende und spiegelnde Präsenz des Analytikers eine neue, korrigierende Beziehungserfahrung darstellen (vgl. Ferenczi, Balint, Winnicott). Hier geht es nicht nur um die Deutung der Vergangenheit, sondern um die Bereitstellung von Funktionen (z.B. Affektregulierung, Mentalisierung), die in der Entwicklung des Patienten gefehlt haben.

Die Entscheidung, welche dieser Haltungen in einem gegebenen Moment die angemessenere ist, ist eine der zentralen Künste der psychoanalytischen Praxis. Sie erfordert eine ständige, disziplinierte Selbstreflexion des Analytikers und die Fähigkeit, flexibel zwischen den Polen der Distanz und der tiefen persönlichen Resonanz zu oszillieren.

ParadigmaRolle des AnalytikersRolle der GegenübertragungPrimäre Wahrnehmung
DistanzNeutraler Beobachter (Ein-Personen-Modell)Störfaktor (muss kontrolliert werden)Kognitiv-beobachtend
ResonanzInvolvierter Teilnehmer (Zwei-Personen-Modell)Zentrales Erkenntnisinstrument (muss analysiert werden)Affektiv-verkörpert

Die subjektive Achse zeigt den Weg von einem objektivistischen Ideal, das die Subjektivität des Analytikers zu eliminieren versucht, hin zu einer radikal intersubjektiven Position, die diese Subjektivität als das unverzichtbare und primäre Instrument der Erkenntnis feiert. Die moderne Psychoanalyse hat erkannt, dass Wissen über die menschliche Seele nicht durch distanzierte Beobachtung, sondern nur durch engagierte, reflektierte und verkörperte Teilnahme gewonnen werden kann. Die Schulung dieser resonanten Fähigkeit ist die zentrale Aufgabe jeder psychoanalytischen Ausbildung.

2.5             Die Teleologische Achse – Wozu erkennen wir?

Nachdem wir uns mit den fundamentalen Fragen nach dem Gegenstand der psychoanalytischen Erkenntnis (Was?), der Methode ihrer Generierung (Wie?) und dem Subjekt des Erkennens (Wer?) auseinandergesetzt haben, wenden wir uns nun der abschließenden und vielleicht entscheidendsten Dimension zu: der teleologischen Frage nach dem Wozu? Was ist das übergeordnete Ziel (telos) der mühsamen Reise ins Dunkle? Welchen Zweck verfolgt die oft schmerzhafte Arbeit des Aufdeckens, Deutens und Verstehens? Die Antwort auf diese Frage ist nicht nur von therapeutischer, sondern auch von tiefgreifender ethischer und philosophischer Bedeutung. Sie definiert, was wir unter einem „guten Leben“ verstehen und welchen Beitrag die Psychoanalyse dazu leisten kann und soll.

Die Geschichte der Psychoanalyse hat eine Vielzahl von Antworten auf diese Frage hervorgebracht, die sich nicht immer harmonisch zueinander verhalten. Sie spiegeln die unterschiedlichen epistemologischen Paradigmen wider, die wir in den vorangegangenen Kapiteln diskutiert haben. Die vierte epistemische Achse spannt sich zwischen zwei Polen auf: Auf der einen Seite steht ein restauratives Ziel, das auf Heilung, Symptomfreiheit und die normative Wiederherstellung einer „gesunden“ Funktion abzielt. Auf der anderen Seite steht ein emanzipatorisches Ziel, das auf Freiheit, Autonomie und die Akzeptanz der unaufhebbaren Widersprüche der menschlichen Existenz ausgerichtet ist.

Dieses Kapitel wird dieses Spektrum an Zielvorstellungen detailliert untersuchen. Wir beginnen mit der Analyse des restaurativen Ziels, das, tief im medizinischen Erbe der Psychoanalyse verwurzelt, auf Symptomfreiheit und funktionale Anpassung ausgerichtet ist (4.1). Anschließend analysieren wir das narrative Ziel, das in der Konstruktion einer kohärenten und sinnerfüllten Lebensgeschichte die eigentliche therapeutische Leistung sieht und eine Brücke zwischen Restauration und Emanzipation schlägt (4.2). Danach wenden wir uns dem explizit emanzipatorischen Ziel zu, das, in der Tradition der Kritischen Theorie, die Psychoanalyse als einen Prozess der Befähigung zur Freiheit und zur autonomen Selbstreflexion begreift (4.3). Schließlich untersuchen wir das radikalste und vielleicht anspruchsvollste Ziel: das existentielle Ziel. Hier geht es nicht mehr um die Beseitigung von Mangel oder Konflikt, sondern um die Entwicklung der Fähigkeit, die grundlegende Negativität, den Mangel und die unaufhebbare Unsicherheit des menschlichen Daseins zu akzeptieren und kreativ zu gestalten (4.4).

Diese Untersuchung wird zeigen, dass die verschiedenen Zielvorstellungen nicht einfach nur unterschiedliche therapeutische Präferenzen darstellen, sondern Ausdruck tiefgreifender anthropologischer und ethischer Annahmen sind. Die Wahl des Ziels entscheidet darüber, ob die Psychoanalyse primär eine reparative Technik, eine Kunst der Sinnstiftung, ein Werkzeug der Aufklärung oder eine Schule der Lebenskunst ist. Am Fall von Herrn Koops werden wir illustrieren, wie sich diese unterschiedlichen Zielsetzungen in der klinischen Praxis manifestieren und welche Konsequenzen sie für den Patienten haben.

2.5.1          Das restaurative Ziel: Heilung, Funktionalität und die Grenzen des medizinischen Modells

Die historisch ursprünglichste, pragmatisch unmittelbarste und bis heute am weitesten verbreitete Zielvorstellung der Psychoanalyse ist die der Heilung. Als Disziplin, die aus der medizinischen Praxis der Behandlung hysterischer Patientinnen im späten 19. Jahrhundert hervorging, war Freuds primäres Anliegen die Linderung unerträglichen Leidens und die Beseitigung lähmender Symptome. Das restaurative Ziel ist tief in diesem medizinischen Erbe verwurzelt. Es versteht psychisches Leiden analog zu einer körperlichen Krankheit: als eine Störung, eine Pathologie, die eine „normale“ Funktion beeinträchtigt und die durch eine spezifische Intervention behoben, also restituiert oder restauriert, werden soll.

In diesem Paradigma ist das Ziel der Analyse die Wiederherstellung eines gesunden, funktionalen Zustands. Die Logik ist linear und kausal: Ein unbewusster Konflikt, eine traumatische Erinnerung oder ein strukturelles Defizit (die Ursache) produziert ein Symptom oder eine Verhaltensstörung (die Wirkung). Die psychoanalytische Arbeit, die diesen pathogenen Kern aufdeckt und bearbeitet, beseitigt die Ursache, was konsequenterweise zum Verschwinden des Symptoms führen sollte. Dieses Modell ist epistemologisch eng mit dem archäologischen Modell des Unbewussten (Kapitel 1.1) und einem kausal-naturalistischen Projekt verbunden. Es geht davon aus, dass es eine klare, identifizierbare Pathogenese gibt, die durch eine gezielte Intervention rückgängig gemacht werden kann.

Freud selbst hat dieses Modell in seinen frühen Schriften wiederholt vertreten. Die kathartische Methode, die er von Josef Breuer übernahm, basierte auf der Annahme, dass das „Abreagieren“ eines „eingeklemmten Affekts“ das hysterische Symptom zum Verschwinden bringen würde (Freud & Breuer, 1895d). Auch seine spätere, klassische Technik der Konfliktaufdeckung folgt dieser Logik: Die Bewusstmachung des verdrängten infantilen Konflikts soll dessen pathogene Kraft neutralisieren. Der Erfolg der Behandlung wird hier an einem objektiven, beobachtbaren Ergebnis gemessen: der Symptomfreiheit und der Wiederherstellung der funktionalen Anpassung an die Anforderungen der sozialen Realität, von Freud prägnant als Arbeits- und Liebesfähigkeit zusammengefasst.

In der heutigen Psychotherapielandschaft wird dieses restaurative Ziel oft durch die Anforderungen von Gesundheitssystemen und Versicherungen verstärkt. Diese fordern nachweisbare und effiziente Ergebnisse, die sich in standardisierten Maßen wie der Reduktion von Symptom-Scores oder der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit ausdrücken lassen. Die Sprache der „Störung“ (z.B. Angststörung, Persönlichkeitsstörung) und der „Behandlung“ ist die dominante Sprache dieses Paradigmas. Viele moderne Psychotherapieformen, insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie (KVT), haben dieses Ziel zu ihrem primären Anliegen gemacht und ihre Methoden auf die effiziente Beseitigung von Symptomen optimiert.

Auch innerhalb der Psychoanalyse gibt es Schulen, die diesem Ziel nahestehen. Die Ich-Psychologie beispielsweise, wie sie von Heinz Hartmann begründet wurde, zielt auf den Aufbau und die Stärkung von Ich-Funktionen ab. Hier geht es darum, strukturelle Defizite zu beheben und dem Patienten zu helfen, die Realität besser zu bewältigen. Veränderung wird als Nachreifung oder Restauration von beeinträchtigten psychischen Kapazitäten verstanden.

Für Herrn Koops würde ein restauratives Ziel bedeuten, dass er seine Wut kontrollieren lernt, keine Gewalt mehr anwendet und in der Lage ist, eine stabile Beziehung zu führen. Die Therapie wäre erfolgreich, wenn seine depressiven Symptome und seine Suizidgedanken verschwinden und er nicht mehr durch das Muster des plötzlichen Verlassenwerdens aus der Bahn geworfen wird. Die Intervention würde sich darauf konzentrieren, die kausale Verbindung zwischen seiner unkontrollierten Aggression und dem Scheitern seiner Beziehungen aufzudecken.

Allerdings hat die Psychoanalyse von Beginn an eine tiefgreifende Kritik an einem rein restaurativen oder adaptiven Verständnis von Heilung formuliert.

  1. Symptomverschiebung: Die Psychoanalyse argumentiert, dass eine rein symptomorientierte Behandlung oft nur zu einer Symptomverschiebung führt. Wenn der zugrundeliegende unbewusste Konflikt nicht bearbeitet wird, wird das Symptom zwar an einer Stelle beseitigt, taucht aber in einer neuen Form an anderer Stelle wieder auf. Die „Heilung“ ist in diesem Fall nur eine oberflächliche und nicht nachhaltige. Bei Herrn Koops könnte die Unterdrückung seiner Aggression zu neuen psychosomatischen Beschwerden oder einer vertieften Depression führen.
  2. Die „Flucht in die Gesundheit“: Ein Patient kann die Symptomfreiheit auch als Widerstand gegen die tiefere und schmerzhaftere Auseinandersetzung mit seinen grundlegenden Konflikten nutzen. Eine schnelle „Heilung“ kann eine Form der Abwehr sein, eine „Flucht in die Gesundheit“, um den analytischen Prozess vorzeitig zu beenden und die Konfrontation mit dem eigentlichen Problem zu vermeiden (Freud, 1917). Herr Koops könnte sich beispielsweise schnell anpassen und ein „Musterpatient“ werden, ohne seine innere Spaltung wirklich zu überwinden.
  3. Die Kritik der „Normalität“: Das Ziel der funktionalen Anpassung wirft die kritische Frage auf: Anpassung an was? An eine potenziell „kranke“ oder repressive Gesellschaft? Die Psychoanalyse, insbesondere in ihrer kritischen Ausprägung, hat immer wieder darauf hingewiesen, dass gesellschaftliche Normen selbst neurotisch sein können. Eine bloße Anpassung an diese Normen wäre dann keine Heilung, sondern eine Form der Selbstentfremdung und der Unterwerfung unter pathogene soziale Strukturen. Herbert Marcuse (1965) hat argumentiert, dass die Psychoanalyse in einer repressiven Gesellschaft ihre „subversive“ und kulturkritische Funktion bewahren müsse und nicht zu einem Instrument der sozialen Konformität werden dürfe.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das restaurative Ziel einen notwendigen, aber nicht hinreichenden Aspekt der psychoanalytischen Zielsetzung darstellt. Die Linderung von Leiden ist ein unbestreitbar legitimes und notwendiges Ziel jeder Therapie. Doch die Psychoanalyse definiert Heilung nicht als die bloße Abwesenheit von Symptomen oder als reibungslose soziale Anpassung. Ihr Anspruch geht tiefer. Sie zielt auf eine strukturelle Veränderung der Persönlichkeit, die das Subjekt nicht nur funktionaler, sondern auch freier und selbstbewusster macht. Dies führt uns zu den nächsten, anspruchsvolleren Zielvorstellungen.

2.5.2          Das narrative Ziel: Die Konstruktion einer kohärenten Lebensgeschichte

Eine zweite, einflussreiche Konzeption des psychoanalytischen Ziels verlagert den Fokus von der Beseitigung von Symptomen auf die Ebene der Bedeutung und des Sinns. In diesem hermeneutischen Paradigma ist psychisches Leiden nicht primär das Resultat eines kausalen Mechanismus, sondern die Folge einer gestörten oder fragmentierten Lebensgeschichte. Das Ziel der Analyse ist es daher, dem Patienten zu helfen, eine kohärente, umfassende und sinnhafte Erzählung (narrative) über sein eigenes Leben zu konstruieren. Dieses Ziel stellt eine Brücke dar zwischen dem restaurativen und dem emanzipatorischen Pol der teleologischen Achse.

Psychisches Leiden wird hier als narrative Desintegrationverstanden. Autoren wie Roy Schafer (1980) und Donald Spence (1982) haben argumentiert, dass die menschliche Erfahrung fundamental narrativ strukturiert ist. Unsere Identität ist unsere Lebensgeschichte. Das neurotische Leiden von Herrn Koops ist aus dieser Perspektive das Resultat einer zutiefst inkohärenten Geschichte. Seine Erzählung vom „übermäßig liebenden Opfer“ ist ein Fragment, das in unerträglichem Widerspruch zu den anderen Fragmenten seines Lebens steht – der Gewalt, der Flucht der Frauen, seinem tiefen Misstrauen. Sein Leiden entsteht aus der Unfähigkeit, diese Teile zu einer sinnvollen Geschichte zu verbinden. Sein Leben „ergibt keinen Sinn“.

Das Ziel der psychoanalytischen Arbeit ist es, diese narrative Kohärenz wiederherzustellen. Die Analyse wird zu einem Raum, in dem eine neue, umfassendere und therapeutisch wirksamere Lebensgeschichte geschaffen wird. Der Analytiker, der sich im Modus des Hermeneutikers befindet, wird diesen Prozess aktiv fördern:

  • Füllen der Lücken: Durch die Arbeit an Erinnerungen, Träumen und Assoziationen werden vergessene oder verdrängte Episoden wieder in die Erzählung integriert.
  • Herstellen von Verbindungen: Die Deutung schafft sinnhafte Verbindungen zwischen scheinbar unzusammenhängenden Elementen. Sie webt die losen Fäden zu einem dichten Gewebe.
  • Transformation der Bedeutung: Die Analyse verändert nicht die Fakten der Vergangenheit, aber sie kann ihre Bedeutung transformieren. Eine traumatische Erfahrung, die bisher nur als Quelle von Scham und Ohnmacht erlebt wurde, kann im Kontext der analytischen Erzählung zu einer Geschichte des Überlebens und der Stärke umgedeutet werden.

Diese Perspektive führte zu der entscheidenden epistemologischen Debatte über die Natur der „Wahrheit“ in der Psychoanalyse. Donald Spence (1982) führte die berühmte Unterscheidung zwischen historischer Wahrheit und narrativer Wahrheit ein. Während die historische Wahrheit (was „wirklich“ passiert ist) unerreichbar bleibt, ist die narrative Wahrheit (die innere Stimmigkeit und Überzeugungskraft der Geschichte) das eigentliche therapeutische Ziel. Eine Deutung ist „wahr“ in diesem Sinne, wenn sie dem Patienten hilft, seine Erfahrungen auf eine Weise zu organisieren, die für ihn sinnhaft und befreiend ist. Marcia Cavell (1993) hat diese Position kritisch weiterentwickelt und betont, dass eine wirksame Geschichte nicht beliebig sein kann, sondern in den realen Erfahrungen des Patienten verankert sein muss. Dennoch bleibt die zentrale Einsicht, dass die therapeutische Wirkung weniger in der Aufdeckung von Fakten als in der konstruktiven Organisation von Bedeutung liegt.

Für Herrn Koops wäre das narrative Ziel erreicht, wenn er in der Lage wäre, eine Geschichte über sich zu erzählen, die seine liebevollen und seine aggressiven Seiten nicht mehr spalten muss. Er könnte zum Beispiel verstehen, wie seine kontrollierende „Liebe“ aus seiner panischen Angst vor dem Verlassenwerden erwächst, die wiederum in seiner Kindheit wurzelt. Er würde sich nicht mehr als reines Opfer oder als reinen Täter sehen, sondern als komplexe Figur, deren Handeln aus einer leidvollen Geschichte verständlich wird. Das narrative Ziel ist insofern restaurativ, als es auf die Wiederherstellung von Sinn und Kohärenz abzielt. Es ist aber auch bereits emanzipatorisch, da es den Patienten zum aktiven Autor seiner eigenen Geschichte macht und ihm die Deutungshoheit über sein Leben zurückgibt.

2.5.3          Das emanzipatorische Ziel: Die Befähigung zur Freiheit und Selbstreflexion

Das emanzipatorische Ziel der Psychoanalyse, wie es maßgeblich von der Kritischen Theorie und insbesondere von Jürgen Habermas (1968) formuliert wurde, geht über die Ziele der Symptomlinderung und der narrativen Kohärenz hinaus. Es definiert den Zweck der Analyse nicht primär in Begriffen von Gesundheit oder Sinn, sondern in Begriffen von Freiheit, Mündigkeit und Autonomie. In dieser Perspektive ist die Psychoanalyse nicht nur eine therapeutische Methode, sondern ein Projekt der Aufklärung im kantischen Sinne: der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.

Aus der Perspektive der Kritischen Theorie ist neurotisches Leiden eine Form der Selbst-Entfremdung. Das Subjekt ist von Teilen seiner selbst abgeschnitten und wird von Kräften beherrscht, die es nicht versteht und nicht kontrollieren kann. Diese Kräfte sind, wie Habermas (1968, S. 330) es nennt, „hypostasierte Gewalten“ – geronnene, unverstandene Stücke der eigenen Lebensgeschichte, die wie eine fremde Naturmacht über das Subjekt herrschen. Die Verdrängung ist ein Prozess, der nicht nur bestimmte Inhalte aus dem Bewusstsein ausschließt, sondern auch die Fähigkeit des Subjekts zur Selbstreflexion beschädigt. Das Ich verliert die Souveränität im eigenen Haus. Herr Koops ist ein perfektes Beispiel: Er wird von seiner Wut „übermannt“, er „versteht nicht“, warum er so handelt – er ist seinen eigenen Impulsen entfremdet.

Das Ziel der Psychoanalyse ist es, diesen Prozess der Entfremdung umzukehren. Sie ist eine Methode, die auf die Wiederherstellung der Autonomie des Ichs zielt. Der zentrale Mechanismus hierfür ist die Selbstreflexion. Wie oben dargelegt, fungiert die Psychoanalyse als eine Tiefenhermeneutik, die die systematisch verzerrte Kommunikation des Subjekts mit sich selbst aufdeckt.

  • Aufhebung der Kausalität des Schicksals: Die Deutung macht dem Patienten die „Kausalität des Schicksals“ (Habermas, 1968, S. 330) bewusst – also die Art und Weise, wie unverstandene vergangene Ereignisse sein gegenwärtiges Leben determinieren. Indem der Patient diesen Zusammenhang versteht, verliert dieser seine zwingende, naturwüchsige Macht. Die Erkenntnis der Ursachen ist der erste Schritt zu ihrer Überwindung.
  • Stärkung der kritischen Kompetenz: Die Psychoanalyse zielt nicht darauf ab, dem Patienten eine neue, „richtige“ Weltsicht zu vermitteln. Sie zielt darauf ab, seine Fähigkeit zu stärken, seine eigenen Motive, Wünsche und Überzeugungen kritisch zu hinterfragen. Das Ziel ist nicht ein spezifischer Inhalt, sondern eine formale Kompetenz: die Fähigkeit zur Mündigkeit und zur autonomen Urteilsbildung.
  • Freiheit zur Entscheidung: Das ultimative Ziel ist die von Freud (1923b) formulierte Freiheit des Ichs, „sich so oder anders zu entscheiden“ (S. 317). Die Analyse soll die pathologischen Fixierungen auflösen, die die Wahlmöglichkeiten des Subjekts einschränken. Sie soll den Patienten in die Lage versetzen, sein Leben nicht mehr als ein passives Opfer seiner unbewussten Antriebe und seiner Vergangenheit zu erleben, sondern als ein aktiver Gestalter seiner Zukunft.

Für Herrn Koops würde das emanzipatorische Ziel bedeuten, dass er nicht nur versteht, warum er gewalttätig wird, sondern dass er die Freiheit erlangt, in einer Konfliktsituation anders zu handeln. Er wäre nicht mehr der Sklave seiner unkontrollierten Wut. Er könnte bewusst wählen, ob er einer Beziehung aus dem Weg geht, einen Konflikt anspricht oder eine Grenze setzt, anstatt unbewusst zu agieren. In der von Mertens (2021) skizzierten klinischen Entscheidung, primär auf „Einsicht in unbewusste Konflikte“ zu zielen, dient die analytische Arbeit diesem emanzipatorischen Ziel. Der Analytiker fungiert hier als Übertragungsobjekt, um die alten, zwanghaften Muster bewusst und damit der Reflexion und der Veränderung zugänglich zu machen.

Dieses Ziel hat eine unverkennbar politische Dimension. Es widersetzt sich jeder Form von Therapie, die auf bloße Anpassung an bestehende Verhältnisse abzielt. Die Befähigung zur individuellen Autonomie ist zugleich ein Akt des Widerstands gegen gesellschaftliche Kräfte, die auf Konformität und Entmündigung drängen.

2.5.4          Das existentielle Ziel: Die Akzeptanz des Mangels und der Unsicherheit

Das vierte und vielleicht radikalste Ziel der psychoanalytischen Reise geht noch einen Schritt über die Emanzipation hinaus. Es zielt nicht auf die Wiederherstellung, die Sinnstiftung oder die Befreiung im Sinne einer vollständigen Autonomie. Es zielt vielmehr auf die Akzeptanz der fundamentalen Unvollständigkeit, des Mangels und der Negativität, die die menschliche Existenz kennzeichnen. In dieser existenziellen Perspektive ist das Ziel der Analyse nicht, alle Probleme zu lösen, sondern die Fähigkeit zu entwickeln, mit den unlösbaren Widersprüchen des Lebens zu leben.

Dieses Ziel gründet auf einer negativen Anthropologie, wie sie in Kapitel 1.4 skizziert wurde (Warsitz & Küchenhoff, 2015). Diese Sichtweise, inspiriert von Denkern wie Hegel, Lacan und Adorno, versteht den Menschen nicht als ein Wesen, das nach Vollkommenheit und Harmonie strebt, sondern als ein „Mangelwesen“. Das Subjekt ist von Anfang an durch eine grundlegende Spaltung, einen Verlust und eine Entfremdung gekennzeichnet. Das Streben nach Vollkommenheit ist eine narzisstische Illusion. Das Ziel kann daher nicht sein, den Mangel zu beseitigen oder die Widersprüche aufzulösen.

Das existentielle Ziel der Analyse ist die Transformation der Beziehung des Subjekts zu diesem fundamentalen Mangel. Es geht darum, von einer Haltung des illusionären Strebens nach Ganzheit und Sicherheit zu einer Haltung der Akzeptanz von Unsicherheit, Ambiguität und Unvollständigkeit zu gelangen.

  • Die Aufgabe der Suche nach dem „Höchsten Gut“: Der Analytiker und Philosoph Peter Widmer (2001) formuliert, dass eines der lohnendsten Ziele der Analyse darin liegt, „aus der Position der Klage um das fehlende Ganze herauszukommen“ und zu entdecken, dass das „Höchste Gut nicht das ist, was ein für alle Mal schon fix und fertig vorliegt“ (S. 26). Es geht darum, die narzisstische Phantasie einer endgültigen, verlustfreien Befriedigung aufzugeben.
  • Wiederherstellung von Dynamik: Das Ziel ist nicht die Auflösung des Unbewussten, sondern, wie Storck & Doğan (2025) argumentieren, die Überwindung von Erstarrung und die Fähigkeit, mit den inneren Prozessen flexibel umzugehen. Das Unbewusste lässt sich nicht entkleiden, es „zieht sich immer schon um“. Das Ziel ist es, mit diesem Wandel leben zu lernen.
  • Freiheit zur Neubeschreibung: Der amerikanische Philosoph Richard Rorty (1988) hat diese existentielle Dimension in einer pragmatistischen Wendung formuliert. Für ihn liegt der Wert der Psychoanalyse nicht in der Aufdeckung der „Wahrheit“ über die Vergangenheit, sondern in ihrer Fähigkeit, uns Werkzeuge zur Neubeschreibung (redescription) unserer selbst an die Hand zu geben. Die Freiheit, die hier entsteht, ist die Freiheit, sich von der Tyrannei einer einzigen, fixierten Lebensgeschichte zu befreien.

Für Herrn Koops würde dieses Ziel bedeuten, dass er lernt, mit seiner inneren Spaltung zu leben, ohne sie ausagieren zu müssen. Er würde akzeptieren, dass er sowohl liebevolle als auch hasserfüllte Anteile in sich trägt und dass diese nie vollständig zur Deckung kommen werden. Er würde die tragische Wiederholung seines Scheiterns nicht mehr als bloßen Beweis seiner Wertlosigkeit sehen, sondern als Ausdruck eines tiefen, existenziellen Dilemmas. Die entscheidende Einsicht wäre nicht „Ich bin in Wahrheit aggressiv“, sondern „Ich bin ein Mensch, der mit der unerträglichen Spannung zwischen dem Wunsch nach Liebe und der Angst vor Vernichtung ringt.“

In der klinischen Praxis von Mertens (2021) kann die Entscheidung, den Analytiker als „Entwicklungsobjekt“ zu nutzen, um „neue Beziehungserfahrungen“ zu ermöglichen, als ein Schritt in diese Richtung verstanden werden. Es geht darum, die Fähigkeit zu entwickeln, Beziehungen trotz ihrer inhärenten Unvollkommenheit, ihrer Frustrationen und ihrer Ambivalenzen zu gestalten und zu ertragen.

Das existentielle Ziel führt das psychoanalytische Projekt zu seinem logischen und ethischen Ende. Es erkennt an, dass das „Nicht-Wissen“ und der „Mangel“ keine vorübergehenden Zustände sind, die überwunden werden müssen, sondern die grundlegenden Bedingungen unserer Existenz. Die höchste Form der psychischen Gesundheit liegt dann nicht in der Abwesenheit von Konflikten, sondern in der Fähigkeit, inmitten der unvermeidlichen Unsicherheit und Widersprüchlichkeit des Lebens eine Haltung der kreativen Offenheit, der kritischen Selbstreflexion und der ironischen Distanz zu bewahren. Das Ziel der Reise ins Dunkle ist nicht, das Licht zu finden, sondern zu lernen, im Dunkeln zu sehen.

2.5.5          Die Positionierung des Autors im Diskursraum

Die Reise entlang der teleologischen Achse hat vier distinkte, aber nicht unverbundene Zielhorizonte der psychoanalytischen Arbeit aufgezeigt. Es stellt sich die Frage, ob eine dieser Positionen als die „richtige“ oder „höchste“ anzusehen ist. Aus der Perspektive dieses Essays ist eine solche Hierarchisierung nicht sinnvoll. Vielmehr repräsentieren die vier Ziele unterschiedliche Ebenen und Ambitionen, die je nach Patient, dessen Struktur, Leidensdruck und Motivation sowie je nach Phase der Behandlung unterschiedliches Gewicht haben können. Ein Patient in einer akuten Krise wie Herr Koops benötigt zunächst eine Form der Restauration – die Linderung seiner Suizidalität und seiner lähmenden Depression. Ohne diese Stabilisierung ist keine tiefere Arbeit möglich. Anschließend mag das narrative Ziel in den Vordergrund treten: die gemeinsame Arbeit an einer Geschichte, die sein Leiden verständlich macht und ihm wieder einen Boden unter den Füßen gibt. Erst auf dieser Basis kann das anspruchsvolle Projekt der Emanzipation – die Stärkung seiner Autonomie und Selbstreflexion – in Angriff genommen werden.

3               Schlussfolgerung: Die Kunst, ins Dunkle hinauszubauen – Psychoanalyse als Methodologie der Negativität

Der Autor dieses Essays positioniert sich jedoch klar am emanzipatorischen und existenziellen Pol dieser Achse. Die letztendliche Rechtfertigung für die lange, oft mühsame und kostspielige psychoanalytische Reise liegt nicht allein in der Wiederherstellung von Funktionalität. Sie liegt in dem Versprechen, das in Freuds Aufklärungsprojekt angelegt ist: dem Versprechen von Freiheit. Die einzigartige Leistung der Psychoanalyse besteht darin, dem Subjekt nicht nur zu helfen, besser zu leben, sondern auch, sein Leben bewusster und selbstbestimmter zu gestalten. Dies schließt die Fähigkeit ein, die schmerzhaften Wahrheiten über sich selbst und die unaufhebbaren Widersprüche der menschlichen Existenz nicht nur zu verstehen, sondern sie auch auszuhalten und kreativ zu gestalten.

Für Herrn Koops bedeutet dies, dass ein erfolgreicher Abschluss seiner Analyse nicht nur darin bestünde, dass er keine Partnerinnen mehr schlägt. Es würde bedeuten, dass er die Freiheit erlangt hat, die Wurzeln seiner Aggression in sich selbst zu erkennen, dass er die Fähigkeit entwickelt hat, mit der Angst vor dem Verlassenwerden umzugehen, ohne in kontrollierendes Verhalten zu verfallen, und dass er schließlich die tragische Dimension seiner eigenen Geschichte als Teil seiner Identität akzeptieren kann, ohne daran zu zerbrechen. Das Ziel ist nicht die Beseitigung der Dunkelheit, sondern die Entwicklung der Kompetenz, in ihr zu navigieren – die Kunst, wie Freud es nannte, ins Dunkle hinaus zu bauen. Dies ist der anspruchsvolle, aber letztlich zutiefst humane Beitrag, den die Psychoanalyse als Erkenntnismethode und als Lebenskunst zu leisten vermag.

Unsere Reise durch die vier epistemischen Achsen der Psychoanalyse hat uns nicht zu einem festen, gesicherten Ufer geführt, sondern in das Herz eines dynamischen, oft widersprüchlichen und unabgeschlossenen Diskurses. Wir begannen mit dem Rätsel des Herrn Koops, einem Mann, gefangen im Paradox zwischen seinem Selbstbild als hingebungsvoller Liebender und seiner Realität als gewalttätiger, kontrollierender Partner. Die Unfähigkeit, diesen Widerspruch aufzulösen, führte uns zur Erkenntnis, dass die Stärke der Psychoanalyse nicht in der Bereitstellung einfacher Antworten liegt, sondern in der Entwicklung einer Methodologie, die es erlaubt, mit solchen fundamentalen Aporien umzugehen. Wir haben gesehen, wie sich der Gegenstand der Analyse von einem verborgenen, statischen Inhalt zu einer emergenten, prozesshaften und letztlich negativen Kategorie gewandelt hat. Wir haben die Methode nicht als deduktive Anwendung von Theorien, sondern als eine konjekturale Kunst – eine techné des Erratens – begriffen. Wir haben die Subjektivität des Analytikers vom Störfaktor zum zentralen Erkenntnisinstrument umgewertet und die Ziele der Analyse von einer rein restaurativen Heilung zu einem emanzipatorischen und existenziellen Projekt der Freiheit und Akzeptanz erweitert.

Was bleibt am Ende dieser Reise als Essenz psychoanalytischer Erkenntnistheorie? Die zentrale Schlussfolgerung, die sich aus unserer Untersuchung ergibt, ist, dass die Psychoanalyse in ihrem Kern eine Methodologie der Negativität ist. Ihre einzigartige Identität und ihre fortdauernde Relevanz im 21. Jahrhundert gründen sich nicht auf die Illusion der Gewissheit, sondern auf ihre Fähigkeit, mit dem Nicht-Wissen, dem Widerspruch, dem Mangel und der Unsicherheit produktiv umzugehen. Ihre Stärke liegt in ihrer prozesshaften, unabgeschlossenen und zutiefst selbstkritischen Natur. Sie ist keine Lehre von endgültigen Wahrheiten, sondern eine Praxis der fortwährenden Befragung.

Diese Haltung hat tiefgreifende Implikationen für die Position der Psychoanalyse im gegenwärtigen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs. Wir können ihre zukünftige Rolle und ihre wichtigste Funktion in drei zentralen Aspekten zusammenfassen:

3.1.1          Psychoanalyse als Korrektiv zum Positivismus:

In einer Zeit, die von der Suche nach schnellen, datengestützten und algorithmischen Lösungen geprägt ist, in der die evidenzbasierte Medizin und manualisierte Psychotherapien den Goldstandard definieren, übernimmt die Psychoanalyse eine unverzichtbare Funktion als Korrektiv. Sie verteidigt hartnäckig die Komplexität, die Subjektivität und die Toleranz für Ambiguität. Sie besteht darauf, dass menschliches Leiden sich nicht auf Symptom-Scores reduzieren lässt und dass Heilung mehr ist als die Wiederherstellung einer normativen Funktionalität. Sie widersetzt sich dem Druck, ihre Methode dem Diktat des Messbaren zu unterwerfen, und beharrt darauf, dass die tiefsten Wahrheiten sich oft gerade dort zeigen, wo die Sprache versagt und die Logik an ihre Grenzen stößt. Damit ist sie mehr als nur eine alternative Therapiemethode; sie ist ein intellektueller und ethischer Gegenpol zu den reduktionistischen Tendenzen der Spätmoderne.

3.1.2          Die Psychoanalyse als Integrationswissenschaft:

Durch ihre fundamentale Verankerung im Dilemma zwischen Erklären und Verstehen ist die Psychoanalyse in einer einzigartigen Position, als Integrationswissenschaft zu fungieren. Sie ist eine der wenigen Disziplinen, die versucht, die Brücke zwischen dem „harten“ Wissen der Naturwissenschaften und dem „weichen“ Wissen der Geisteswissenschaften zu schlagen. Sie kann den Dialog mit den Neurowissenschaften suchen, ohne sich deren naturalistischem Vokabular unterwerfen zu müssen. Sie kann die neurobiologischen Mechanismen (die „Leinwand“) anerkennen, ohne den subjektiven Sinn (das „Bild“) preiszugeben. Indem sie auf der irreduziblen Bedeutung des subjektiven Erlebens, der Phantasie und der Geschichte besteht, kann sie verhindern, dass der Mensch in der neurowissenschaftlichen Forschung zu einem bloßen Gehirn wird. Sie schlägt die Brücke vom Mechanismus zum Sinn, von der Biochemie zur Biografie.

3.1.3          Psychoanalyse als Kultivierung einer Kunst:

Letztlich hängt die Zukunft der Psychoanalyse nicht von der Entwicklung immer ausgefeilterer Theorien ab, sondern von der Kultivierung einer Kunst – der Kunst des analytischen Zuhörens und Antwortens. Diese Kunst basiert, wie wir gesehen haben, auf der Ausbildung einer Haltung, die das Nicht-Wissen produktiv machen kann. Sie erfordert die Schulung der „negativen Fähigkeit“ (Bion), die Kultivierung der konjekturalen Vernunft (techné) und die disziplinierte Nutzung der eigenen Subjektivität als Resonanzinstrument. Diese Kompetenzen sind nicht in Manualen zu lernen; sie erfordern eine lange, intensive und oft schmerzhafte persönliche Entwicklung, wie sie in der Lehranalyse und der supervidierten Praxis stattfindet. Die Zukunft der Psychoanalyse hängt davon ab, ob es ihr gelingt, Räume zu schaffen und zu erhalten, in denen diese anspruchsvolle Kunst gelehrt, gelernt und gelebt werden kann.

Am Ende unserer Überlegungen kehren wir zu Freuds berühmtem und oft zitiertem Satz aus der Traumdeutung zurück, der das Wesen dieser Kunst auf unübertroffene Weise einfängt: „Wir sind ja genötigt, ins Dunkle hinaus zu bauen.“ (Freud, 1900a). Dieser Satz ist keine resignative Entschuldigung für mangelnde Wissenschaftlichkeit oder eine Kapitulation vor der Komplexität. Er ist vielmehr die präzise und selbstbewusste Beschreibung einer einzigartigen und anspruchsvollen Methode. Er drückt die ethische und epistemologische Verpflichtung aus, sich dem Unbekannten auszusetzen, auf die Sicherheit vorgefertigter Antworten zu verzichten und im dialogischen Prozess mit dem Patienten gemeinsam etwas Neues zu schaffen.

Die Stärke der Psychoanalyse im 21. Jahrhundert liegt nicht im Besitz einer allumfassenden, endgültigen Wahrheit, sondern in ihrer einzigartigen Fähigkeit, ein Wissen über die Tiefen, die Widersprüche und die irreduzible Subjektivität der menschlichen Erfahrung zu generieren. Sie ist die Kunst, die Stimme des Unsichtbaren im Sichtbaren zu vernehmen und dem leidenden Subjekt zu helfen, seine eigene, einzigartige und unabgeschlossene Geschichte zu schreiben.

4               Literaturverzeichnis

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